Hans Ulrich Funk
Johann Andreas Engelhardt
Ein frühromantischer Orgelbauer und sein Wirken
Hans Ulrich Funks Buch über den Orgelbauer Johann Andreas Engelhardt entspringt einer Konstellation, die es bis ins Detail hinein prägt. Funk ist sowohl ausgebildeter Orgelbauer als auch examinierter Kirchenmusiker. Als Orgelsachverständiger in der Landeskirche Hannover und Kreiskantor in Herzberg war er jahrzehntelang für die Orgeln in dem Gebiet verantwortlich, in dem Engelhardt wirkte. Seit seinem Ruhestand ist Funk orgelbaulich tätig, unter anderem aus der Erfahrung mit den Orgeln Engelhardts heraus.
Der Orgelbauer Johann Andreas Engelhardt wurde 1804 in Lossa geboren, heute in Sachsen-Anhalt. Wo er seine Lehrjahre verbrachte, ist nicht bekannt; als Geselle arbeitete er in der Werkstatt Gottlieb Schönburgs in Schafstädt. Seine Werke lassen darauf schließen, dass er Orgeln von Gottfried Silbermann, einigen thüringischen Orgelbauern und die Hildebrandt-Orgel der Naumburger Wenzelskirche studiert hatte. Ab etwa 1829 wohnte er in Herzberg am Harz, wo er heiratete und sich niederließ. Auch nach einem Konkurs 1859 arbeitete er weiter; nach seinem Tod 1866 übernahmen seine Söhne Gustav Carl und August Friedrich Hermann, schließlich Gustav Carl allein die Werkstatt mit einigem Erfolg, bis er sie 1880 aufgeben musste, wohl weil er an Depressionen litt. Nach Jahren als Wander-Orgelbauer verliert sich seine Spur 1919.
Etwa hundert Orgeln gingen aus der Werkstatt Engelhardt hervor, und „knapp die Hälfte“ (S. 20) sind heute spielbar, wenn auch in unterschiedlichen Erhaltungszuständen. Engelhardts drei größte Orgeln waren die des Doms (1842–46, III/44) und der Brüdernkirche (1866, III/ 52) in Braunschweig sowie der Marktkirche in Goslar (1847/50, III/47), gravitätische 16’-Instrumente, teils mit 32’ im Pedal, in Goslar auch im Hauptwerk. Heute ist die Orgel der Herzberger Kirche St. Nicolai (II/36) die einzige erhaltene Orgel Engelhardts, deren Hauptwerk auf Prinzipal 16’-Basis steht.
Die Mehrzahl seiner Orgeln baute Engelhardt für kleine, häufig aus Holz errichtete Kirchen. Sie hatten ein oder zwei Manuale und folgten einem bestimmten Typus: Neben ein prinzipalbetontes Hauptwerk, meist mit Bordun 16’, Gambe oder Gemshorn und Hohl- oder Doppelflöte, gelegentlich mit 4’-Flöte und Trompete, trat ein kleines Nebenmanual mit einigen 8’- und 4’-Stimmen und ein grundtöniges Pedal bis zum Octavbass 4’. Charakteristisch ist die Mischung aus fortschrittlichen und traditionsverhafteten Zügen. So ging Engelhardt ab etwa 1850 schrittweise von Wellenbrett- zu Strahlenmechaniken und chromatisch angeordnetem Pfeifenwerk über, gelegentlich verwendete er Töpfersche Normalmensur. Andererseits zeigen sich Merkmale der sächsischen Silbermann-Tradition, etwa in der Konstruktion der Prinzipale mit vorgezogenem, breitem Oberlabium und hochstehendem Kern und in der Praxis, die Prinzipalchöre von 4’ aufwärts aus derselben Mensur zu bauen. Zusammen mit einer großzügigen Windversorgung ergab sich ein voller, intensiver Klang, der in zeitgenössischen Gutachten gerühmt wurde. Weniger Geschick zeigte Engelhardt offenbar im Bau von Zungenstimmen.
Funk stellt kurz dar, was über Engelhardts Herkunft und Werdegang bekannt ist und wie sich die Werkstatt in Herzberg entwickelte. Es folgt eine Charakterisierung von Engelhardts Bauweise, Details zu technischer Konstruktion und Pfeifenwerk und eine Tabelle zum ersten Überblick des Gesamtschaffens; ihr Querformat zwingt allerdings dazu, das schwere Buch seitenweise herumzuschwenken. Der Hauptteil enthält knapp 100 Einzeldarstellungen auf 527 Seiten. Jede erfasst belegbare oder rekonstruierte Dispositionen, meistens mit Angaben zu Bauart und zum historischen Bestand, mindestens einen tabellarischen Abriss der Baugeschichte, oft mit ausführlicheren Texten, eine Einstufung der jeweiligen Orgel nach Erhaltungsgrad und schließlich fast durchweg einen Bildteil. Die Fotografien sind weithin nicht von professioneller Qualität; trotzdem zeigen sie Wesentliches und ergänzen den Text mit Gewinn. Technische Zeichnungen enthält der Band nicht.
Alle diese Darstellungen beruhen auf Archivstudien und Untersuchungen an Ort und Stelle. Dass der Autor dabei aus der Praxis von Kirchenmusik, Sachverstand und Orgelbau schreibt, gibt ihnen häufig eine persönliche Färbung; dabei reicht das Spektrum von offener Fassungslosigkeit über das Schicksal etwa der „königlichen Orgel“ von Rosche bei Uelzen (S. 431 ff.) bis zur ausführlichen Darstellung des eigenen Instruments, der Orgel der Herzberger Nicolaikirche (S. 150 ff.) – die Liebe zum Gegenstand ist nicht zu überlesen.
Im Folgenden geht Funk über das bei solchen Monografien Übliche hinaus. Nach einigen genealogischen Kapiteln und einer Persönlichkeitsskizze des Orgelbauers folgt das Kapitel „Erfahrungen und Erkenntnisse bei der Mensuration und Intonation, besonders im Zusammenhang mit der Restaurierung von Engelhardt-Orgeln“. Es ist einerseits ein persönlicher Bericht über die Annäherung an den Orgelbauer Engelhardt und sein Bau- und Klangkonzept, andererseits gibt Funk hier Wissen weiter, über das in diesem spezifischen Bereich nur wenige Orgelbauer und -sachverständige in solchem Maß verfügen dürften.
In der Gesamtschau ergibt sich der Anspruch auf ein erfahrungsgeleitetes Konzept von Orgelklang, das durch den Umgang mit Engelhardts Instrumenten entscheidend geprägt wurde. In der Rückschau auf die Einzelporträts erklärt sich so auch Funks pragmatischer Ansatz im Umgang mit umgebauten oder restaurierungsbedürftigen Orgeln: Grundsätzlich ist das Ziel musikalische Brauchbarkeit; das Wiedergewinnen eines Engelhardt-Klangbilds erwägt der Autor zwar meist, aber immer unter dem Vorbehalt des Aufwands und der Substanz, zu der er nicht allein die Engelhardtsche zählt. Literaturverzeichnis sowie Namens- und Ortsregister erschließen den Inhalt.
Wollte man dem Autor etwas vorwerfen, so wäre es ein gewisser Mangel an Distanz zu seinem Gegenstand. Doch die Offenheit und Klarheit seiner gut geschriebenen Darstellung blenden andere Positionen nicht aus; sie laden zur Auseinandersetzung mit dem Orgelbestand ein, der hier so kenntnisreich ausgebreitet wird. Der mächtige und einfach, aber zweckmäßig gestaltete Band bietet lohnende Lektüre, und er macht neugierig auf eine Orgelwelt, die offenbar mehr Beachtung verdient.
Friedrich Sprondel