Bergelt, Wolf

Joachim Wagner (1690-1749), Orgel­macher

in Zusammenarbeit mit Dietrich Kollmannsperger und Gerhard Raabs (†)

Verlag/Label: 712 Seiten, zahlr. Abb., Schnell und Steiner, Regensburg 2012, 112 Euro
erschienen in: organ 2012/04 , Seite 62

Dies ist ein großartiges Buch über einen wahrhaft großen Orgelbauer! Obwohl in seiner gesamten Lebensspanne Zeitgenosse J. S. Bachs und Erbauer von bemerkenswerten „Mo­numentalorgeln“ von Brandenburg bis Trondheim, vermochte Joachim Wagner (geboren am 13. April 1690 in Karow, Herzogtum Magdeburg; gestorben am 23. Mai 1749 in Salzwedel, Mark Brandenburg) in der öffentlichen Breitenwahrnehmung bisher kaum aus dem Schatten seiner allbekannten Zunftkollegen Gottfried Silbermann oder Arp Schnitger – als Repräsentanten eines klassischen Orgeltyps, für die umfangreiche Monografien vorliegen – he­rauszutreten.
Bisher gab es bis auf eine Dissertation aus den 1930er Jahren keine Biografie dieses Großmeisters des Barockorgelbaus von europäischem Zuschnitt. Dies hat sich mit dem vorliegenden Buch von Wolf Bergelt deutlich geändert. Mit der Verve des erfahrenen Schriftstellers, dem durch jahrzehntelange eigene Archivstudien angehäuften Fachwissen, dem sicheren Stilgefühl des versierten Orgelhistorikers und der unverkennbaren Leidenschaft für sein Sujet gelingt es Bergelt in dem gewichtigen Werk, ein ebenso eindrucksvolles wie plastisches Bild des bedeutendsten Barockorgelbauers Brandenburgs und seiner Werke zu entwerfen. Daran haben die qualitätvollen fotografischen Abbildungen Christian Muhrbecks, die nahezu jede Buchseite schmücken, dank ihrer technischen Brillanz und den oft ungewöhnlichen Perspektiven einen besonderen Anteil.
Die Fülle des Materials, die Bergelt mit seinen Kollegen Dietrich Kollmannsperger und dem inzwischen verstorbenen Gerhard Raabs unter großzügiger Unterstützung durch Matthias Schuke und dessen Archiv zusammengetragen hat, stellt trotz des enormen Umfangs gar einen zweiten Band in Aussicht, der das Thema zu gegebener Zeit um nicht verwirklichte Projekte, Reparaturen, Umbauten, Schüler, Nachwirkungen und weitere Dokumente ergänzen soll.
Wissend, dass man mit einer um Kürze bemühten Rezension von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, die Qualitäten dieser Publikation gerecht zu würdigen, sei wenigs­tens ein kurzer Überblick gegeben. In seiner Einleitung begründet Bergelt das Konzept seiner Darstellung, das auf der Einbeziehung und Nähe sowohl schrift­licher Quellen als auch aller erhaltenen Instrumente beruht und um durch die reichhaltigen Bildmaterialien, Autografen und Zi­­tate den „forschenden Lesern eigene Prüfungsmöglichkeiten an die Hand zu geben, aber auch der Nachwelt wertvollste Dokumente zu erhalten“.
Das Buch ist in zwei große Abschnitte gegliedert: Ein erster Teil skizziert zunächst den politischen und sozio-ökonomischen Hintergrund der Lebenszeit Joachim Wag­ners, an den sich die Biografie des „Maîtres“, wie ihn Bergelt häufig intituliert, mit ihrem familiären Hintergrund, der Individualentwicklung und allen Höhen und Tiefen des Lebenslaufs anschließt. Es ist be­drü­ckend nachzuvollziehen, wie aus dem ständig auf höchs­tem Niveau arbeitenden Meis­ter durch die besonderen familiären Umstände ein gebrochener Mensch wird, der schließlich im Armengrab endet, zu dessen Finanzierung sogar sein Werkzeug versteigert werden muss.
Der folgende Abschnitt stammt von Dietrich Kollmannsperger, Tangermünde, dem derzeit wohl besten Kenner des Wagner’schen Orgelschaffens, seiner technischen und klanglichen Innovationen und der herausragenden handwerklichen und künstlerischen Qualitäten seiner Instrumente: „Werk und Kunst – Prinzip und Genius“. Kollmannsperger hebt die Innovationskraft Wagners mit der Erfindung des Terrassenwellenrahmens, der Manualtransmissionen, der Gabelkoppel und der schräg gestellten Windkastenverspundung hervor und arbeitet das Spezifische der Bauweise Wagners in der Anlage der Teilwerke, der Disposition, Mensurierung und Konstruktion der Spiel- und Regis­termechanik und des Pfeifenwerks, auch gegenüber seinen Lehrmeis­tern wie Gottfried Silbermann und Chris­toph Treutmann dem Älteren, präzise heraus.
In der Dichte der Information der Übersichtlichkeit der sprachlichen Gestaltung und der Reichhaltigkeit der Aspekte fügt sich dieser Teil nahtlos in das Ganze ein und leitet über zum Hauptteil, der lü­ckenlosen Darstellung sämtlicher Wagner-Orgeln in der chronologischen Folge ihrer Entstehung. Mindestens eine technisch perfekte Totalansicht und zahlreiche weitere Detailaufnahmen der Werke, aber auch Reproduktionen der im Text ausführlich zitierten Archivalien ergänzen die Darstellung.
Die Geschichte eines jeden einzelnen Opus wird detailliert anhand des umfangreichen, oft auch neu entdeckten Aktenmaterials und der Literatur dargestellt und bis in die Gegenwart mit den oft kontroversen, manchmal kuriosen, aber häufig auch ärgerlichen Restau­rierungs-Lösungen verfolgt. Dabei kommen dann auch weitere Aspekte des Lebensweges Wagners, seiner Arbeitsweise, seine Mitarbeiter, sein (nicht immer geschicktes bzw. erfolgreiches) Geschäftsgebaren und die lokalen Umstände mit ausführlichen Zitaten und instruktiven Bildbelegen zur Sprache. So entsteht eine dichte Darstellung, die alle orgelspezifischen Themen wie Dispositionen, Besonderheiten der Technik und Bauweise, Eigenheiten einzelner Register klar fokussiert. Dass gelegentlich auch die Verwendung bestimmter charakteristischer Regis­ter Rückschlüsse auf die Biografie Wagners ermöglicht, zeigt exemplarisch etwa die Disposition der Fugara, die Kontakte zum böhmisch-wienerischen Orgelbauer Johann David Sieber wahrscheinlich macht und so seine besondere Position unter den mittel- und norddeutschen Orgelbauern des Spätbarock belegt.
Ein umfangreicher Anhang mit Werkliste, Personen- und Ortsregis­ter, genealogischen Daten, Abkürzungen und Bildnachweis schließt sich an den Textteil an. Natürlich sind bei einem so komplex gestal­teten voluminösen Band kleinere typische Versehen „unvermeidlich“, wie sie nicht zuletzt infolge der inzwischen weitgehend digitalisierten Arbeitsweise leichter auftreten können. Und so wird man diese (auf der Autorenwebseite offen angesprochenen) Kleinigkeiten bisweilen amüsiert, aber kaum mit übertriebenem Kritikereifer zur Kenntnis nehmen. Die bestechende Präsentation des mit 112 Euro kaum überteuerten Bandes mit seinem vorzüglichen Layout und die blendende kenntnisreiche Darstellung machen ihn gegenüber aller kleinlichen Kritik nahezu „immun“.

Gerhard Aumüller