Aurélie Decourt-Alain
Jehan Alain
Biographie, Correspondance, Dessins, Manuscrits (Neuauflage des Buches von 2005)
Dies ist wohl gegenwärtig die umfangreichste, informativste und bedeutendste Biografie des in jungen Jahren aus dem Leben gerissenen französischen Komponisten Jehan Ariste Alain (1911–40). Aurélie Decourt-Alain zeichnet dabei ein sensibles Bild von seinem Leben. Ausführlich, aber immer in flüssiger und einnehmender Sprache, führt sie durch die Kindheit in Saint-Germain-en-Laye im Kreis der Eltern Albert und Magdeleine sowie der Geschwister. Über die Schulzeit, das frühe Komponieren und Orgelspiel, die Ausflüge in die Berge und den Militärdienst führt der Weg hin zum furchtbaren Tod bei einem Gefecht nahe Saumur am 20. Juni 1940.
Beleuchtet werden viele bislang noch nicht oder nur wenig bekannte biografische Details: Man liest vom ganz besonderen, künstlerisch-freien Geist, welcher in der Familie Alain herrschte. Im Haus Alain hörte man durch die Kinder Jehan, Olivier, Marie-Odile und später Marie-Claire fast immer Musik. Oft erklangen die von Albert, der selbst Organist und Komponist war, eigens konstruierte und gebaute große Hausorgel und das Klavier gleichzeitig in verschiedenen Räumen.
Weiter erfährt man von Jehan Alains erster Stelle an St. Nicolas de Maisons-Laffitte und seinen Orgeldiensten an der Synagoge, von Misserfolgen und Erfolgen bei Orgelwettbewerben in Paris oder von seinem Orgelkonzert in Besançon. Ausführlich werden die Studienzeit am Pariser Conservatoire beschrieben und Alains Schwierigkeiten mit seinem Kompositionsprofessor Paul Dukas, der Alains Stil wohl nicht mehr verstand. Berichtet wird ferner über die enge Beziehung zum Orgelprofessor Marcel Dupré, der mit Albert Alain befreundet war und der Jehan am Konservatorium verteidigte, wenn dieser die Formalitäten dort nicht allzu ernst nahm. Vielleicht war ein moderner Ausbildungsbetrieb für Massen an Musikern, ähnlich wie bei Debussy oder Satie, einfach auch nicht geeignet für ein Genie, das nur absolute Freiheit in der Kunst ertragen konnte.
Viel Raum nehmen die Briefe Alains ein: an seine Freundinnen oder Kommilitoninnen Denise Billard, Aline Pelliot, Lola Blum, Marguerite Évian, an seine Eltern und an „Poucette“, wie er seine jüngere Schwester Marie-Claire liebevoll nannte. Später folgten die ergreifenden Briefe von der Front an seine Frau Madeleine und an seine drei Kinder. Diese Briefe zeigen Alain in all seinen menschlichen Facetten von Religiosität und tiefen philosophischen Gedanken bis hin zu Späßen und Streichen oder zu sarkastischer Ironie. Alains Briefe sind oft literarisch-poetische Perlen, ähnlich wie etwa diejenigen von Kafka an Felice. Dazu eingestreut sind zahlreiche Zeichnungen Alains und originale Fotos sowie besonders schöne Manuskripte seiner Kompositionen.
Erwähnt werden alle Schaffensperioden und Werke Alains. Die Autorin, Tochter von Marie-Claire, zeigt hier durchweg profundes musikalisches und geschichtliches Wissen. Ein wichtiges Kapitel ist der Zeit Alains beim Militär gewidmet, wo er in der Freizeit mit den Soldaten für Choraufführungen probte. Obwohl er die gefährlichsten militärischen Aufträge annahm, blieb er einfacher Soldat. Beim Gefecht bei Saumur flohen seine Kameraden. Wehrlos an eine Gartenmauer gedrängt, wurde Alain – entgegen der Genfer Konvention – kaltblütig niedergeschossen. Die Bewohner fanden noch Tage danach verwehte Notenblätter und Manuskripte.
Stellt man sich die fiebernde Sensibilität, die reiche Fantasie und Musikalität Alains in diesem rauen Soldatenleben vor, kann man ermessen, wie er gelitten haben muss: Der Komponist des Jardin Suspendu mit den in immer höhere Sphären in eine kristallene Ferne hinaus schwebenden Harmonien in dieser Welt von Krieg, Brutalität, Desillusion und Tod – man könnte den Glauben an die menschliche Zivilisation verlieren. Alain blieb Mensch in einer entmenschtlichten Zeit. Er verteidigte bis zuletzt die Freiheit des Geistes, den moralischen Anspruch des eigenen Denkens gegen die gleichgeschalteten Massen.
Schließlich beschreibt die Autorin die rasche Verbreitung der Werke Alains, besonders in den USA, nach dem Tod ihres Onkels und die wechselvolle Geschichte ihrer Editionen: von der ersten Publikation 1942/43 bei Leduc durch den Vater Albert, den Schwierigkeiten dabei durch die deutsche Besatzung und durch die zerstreuten Manuskripte, über die von Marie-Claire und Olivier revidierte Ausgabe von 1951/52, bis hin zur „praktischen Ausgabe“ durch Marie-Claire Alain von 1971.
Erwähnt wird auch der Streit nach 1986 um die Neuausgabe – letztlich ein unlösbarer Konflikt zwischen rein musikwissenschaftlicher Herangehensweise und dem tieferen, seelisch-emotionalen Verständnis einer „poetisch-musikalischen Muttersprache“, wie sie Marie-Claire von Kind an durch die Musik ihres Bruders in sich aufnahm. Und so darf man auch die Biografie von Aurélie-Decourt-Alain verstehen: Wer könnte näher und feinfühliger an der Familie Alain und an Jehans Leben sein als die Tochter von Marie-Claire Alain?
Darüber hinaus ist das Buch ein wertvolles zeitgeschichtliches Dokument der für die Kunst und besonders für die Musik in Frankreich so reichen Jahre von 1900 bis 1941. Eine Epoche, deren letzte zauberhaft-zerbrechliche Blüte die Musik Alains vorstellt, die trotz ihrer Modernität noch entfernt aus der französischen Spätromantik, der Postromantik, dem Impressionismus herauswuchs und auch Elemente der Gregorianik, der jüdischen, indischen, östlichen, exotischen Musik und des Jazz aufnahm. Diese verfeinerte Zwischenepoche wurde durch den brutalen Überfall der Nazis auf Frankreich 1940 und die darauffolgende Besatzung jäh und unwiederbringlich zerstört. Stechschritt und Knobelbecherstiefel in den Straßen von Paris einerseits – und andererseits ein Organist, der in einer Kirche Alains Berceuse sur deux notes qui cornent spielt, lassen die ganze Absurdität dieser Zeit erahnen.
Im Ganzen ein wundervolles Buch, das allen wärmstens empfohlen werden kann! Eine Übersetzung ins Englische ist in Arbeit.
Eberhard Klotz