Clemens Morgenthaler

Jean Langlais

Leben und Werk des Kom­ponisten, Organisten und Pädagogen (1907–1991)

Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2023, 226 Seiten, 29,80 Euro
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/03 , Seite 57

Einer der Vorzüge dieser Monografie über den für die französische Orgelkunst des 20. Jahrhunderts äußerst bedeutenden Jean Langlais (1907–91) ist es, dass Clemens Morgenthaler das hier unumgängliche Thema „Blindheit“ sehr sachlich angeht: So wird der straffe Tagesablauf im Institut National des Jeunes Aveugles in Paris mitgeteilt, ebenso die Tatsache, dass Langlais bei aller Souveränität zeitlebens für gewisse Dinge auf die Hilfe Sehender angewiesen war. So transkribierte zunächst Ehefrau Jeanne Sartre seine Werke, ebenso seine zweite Gemahlin, Marie-Louise Jaquet; auch Schüler wie Pierre Cogen und Naji Hakim unterstützten Langlais auf diese Weise. Grundlage waren hierfür Notendiktate oder die Notation in Braille-Schrift in Einzelstimmen und kurzen Phrasen; daraus eine Partitur zu erstellen, ist für beide Seiten ein ungemein mühsamer Prozess.
Durch seine unprätentiöse He­rangehensweise zeichnet Morgenthaler auf den rund hundert Seiten gut gegliederten Fließtextes das Le­benswerk eines hochbegabten Menschen nach. Im Mittelpunkt stehen dabei Langlais’ christlicher Glaube, seine tiefe Verbundenheit mit der lateinischen Liturgie und sein intensives Reflektieren über Musik; die Gregorianik zieht sich als roter Faden und Lebensader durch Lang­lais’ Schaffen. Klar benannt werden Tiefen und Höhen im Lebenslauf sowie die Strapazen und Lichtblicke des Musiker-Alltags: harte Anforderungen in Marcel Duprés Orgelklasse, mystische Erfahrungen in den Orgelwerken seines Vorbilds Charles Tournemire, Enttäuschungen, aber auch Freude über Auszeichnungen und Erfolge wie z. B. die Ernennung zum Titularorga­nisten von Sainte-Clotilde in der Nachfolge César Francks. Nicht zu vergessen sind persönliche Lebenswendungen wie der Tod von Ehefrau Jeanette 1979. Zusammen mit Marie-Louise Jacquet waren Langlais sodann noch einmal weitere erfüllte Jahre geschenkt.
Jean Langlais wird stets als Organist wahrgenommen, wobei er selbst äußerte, dass er ein „Orgel spielender Musiker“ sei. Das Buch dokumentiert überzeugend, dass er darüber hinaus viel Lebensenergie auf seine Kompositionen und den Unterricht nicht nur an prominenten Ausbildungsstätten verwandte. Er war sich nicht zu schade, bei seinen USA-Tourneen ab 1959 bei den „Liturgical Music Workshops“ in der 1917 gegründeten Jugendhilfe-Einrichtung Boys Town, Omaha (Nebraska) von Hause aus wohl nicht immer musikaffine Heranwachsende zu begeistern.
Nach einem Schlaganfall 1984 konnte Langlais zwar wieder die Braille-Notenschrift lesen und schreiben, jedoch dieselben Zeichen nicht mehr ihrer Bedeutung für das Alphabet zuordnen (Aphasie ohne Amusie). Anscheinend hatte das Gehirn die Konnotation mit Musik so intensiv „gespeichert“, dass diese Informationen den Schlaganfall überdauerten. Auch die Fähigkeiten zu improvisieren und zu komponieren hatten nicht gelitten, und die Lücken im Literatur-Repertoire schlossen sich allmählich wieder.
Den zweiten Teil des Bandes bilden vor allem Kurzkommentare zu den wichtigsten Orgel-, Vokal- und Instrumentalwerken mit einer abschließenden Würdigung. Die Übersichten im dritten Teil enthalten eine Zeittafel, eine Werkliste (etwas genauere Editionsangaben wären hier hilfreich gewesen), eine Diskografie mit einigen Neuauflagen und das Literaturverzeichnis.
Gerade weil es um Jean Langlais, der sich nie als Virtuosen begriff, inzwischen etwas still geworden ist, regt diese Publikation dazu an, sich wieder mehr mit seinem Werk und seiner Persönlichkeit zu beschäf­tigen. Schön wäre es auch, seine Kompositionen in der Liturgie und im Konzert öfter hören zu können.

Markus Zimmermann