Alain, Jehan

Jardin suspendu

Œuvres pour orgue (1932-37)

Verlag/Label: Editions Hortus HORTUS 092 (2011)
erschienen in: organ 2013/03 , Seite 55

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Die vorliegende CD liefert eine repräsentative Auswahl von Orgelwerken, die Jehan Alain im Alter von 21 bis 26 Jahren komponiert hat. Es handelt es sich um die erste CD-Veröffentlichung zweier junger, mit verschiedenen internationalen Auszeichnungen bedachter Interpreten. Alains Orgelwerke werden ergänzt durch ein von ihm 1934/35 in der Kompositionsklasse bei Paul Dukas vorgelegtes Kammermusikwerk: Trois Mouvements pour flûte et piano, dessen Klavierpart 1975 von Marie-Claire Alain für Orgel bearbeitet worden ist.
Zeitgleich zum Entstehen der Alain’schen Orgelwerke wurde als Instrument die von Victor Gonzalez (1877-1956), dem damals führenden Orgelbauer Frankreichs, vergrößerte post-symphonische Orgel von St-Jacques in Dieppe ausgewählt. Sie basiert im Kern auf den Vorgängerinstrumenten von Ducroquet (1846) und Georges Krischer (1895).
Alles scheint darauf angelegt zu sein, Alains Orgelmusik in einem möglichst zeitnahen Klangbild und in einer möglichst originalen Interpretationsweise vorzustellen. So befasst sich Yoann Tardivel im ein­leitenden Booklettext (französisch/ englisch) mit der für Alain wichtigen freien Tempogestaltung „à la Chopin“, während der anschließende Beitrag von Vincent Genvrin die Frage nach der idealen Alain-Orgel stellt.
 Nachdem nun hinreichend bekannt geworden ist, dass manche Angaben der Leduc-Werkausgabe bei kritischer Betrachtung nicht mehr unbedingt als verbindlich anzusehen sind, macht sich insbesondere bei der jüngeren Organistengeneration die Tendenz eines neuschöpferischen Interpretationsansatzes bemerkbar. Dieser zeichnet sich einerseits durch eine wohltuende, begrüßenswerte Originalität aus, die sich endlich von der Dominanz einer stereotyp gewordenen Spielweise befreit, andererseits wirkt dieser Aufbruch durch manche darin erkennbare grenzüberschreitende interpretatorische Entscheidung beängstigend. Hierzu ein Beispiel aus der vorliegenden Einspielung: Der die Suite beschließende Choral endet bei Yoann Tardivel überraschenderweise (im Booklet ohne jeglichen Kommentar) ohne Schlussakkord. Dieser ist sowohl in den gedruckten Werkausgaben Leduc und Bärenreiter (T. 88/89, Schlussakkord mit acht auf beide Hände verteilten Noten) als auch in allen Frühfassungen des Stücks existent. Nichtsdestoweniger beschließt Tardivel das Werk als Monodie, indem er anstelle des Schussakkords den aus T. 87 stammenden letzten Pedalton 18 Sekunden lang (!) aushält.
 Mit Ausnahme der Trois Mouvements, wo die natürliche Atemtechnik der Flötistin das Tempo (richtig) bestimmt, werden die eingespielten Orgelwerke von Tardivel in einem relativ langsamen Tempo vorgetragen. Alains eigene Angaben zur Aufführungsdauer seiner Stücke sind inzwischen durch mehrere Pub­likationen bekannt geworden. Auch wenn diese Zeitdauern vom Komponisten in einer Zimmerakustik gemessen wurden, hätten sie dennoch als Referenz für eine modifizierte, auf die reichere Akustik der gotischen Kirche von St-Jacques zugeschnittene Tempogestaltung dienen können.
Stellvertretend für die bei allen Stücken vorhandene langsame Tempowahl des Interpreten sei Le Jardin suspendu genannt, ein Werk, das Jehan Alain in 4:30 Minuten spielte, Tardivel dagegen hier in 8:03 Minuten. Kompositorische Feinheiten, wie die für das Thema charakteris­tische quasi mediantische Akkordbeziehung Es/C auf der ersten und dritten Taktzeit gehen bei einer solchen Tempowahl verloren.
 Insgesamt kann festgestellt werden, dass, auch wenn Yoann Tardivel Crescendo-Passagen zugreifend nachgestaltet, sein Interpretationsansatz eher die träumerische Seite von Alains Orgelmusik fokussiert. Marion Ralincourt integriert ihre Flöte mit viel Feingefühl in die Klanglichkeit der Orgel; das Zusammenspiel beider lässt keine Wünsche offen. Abgesehen von der bedauernswerten Tendenz, durch persönliche, jedoch die Substanz der Musik angreifende Entscheidungen, Jehan Alain als Komponisten „verbessern“ zu wollen, bietet die Einspielung eine empfehlenswerte Alternative zu den zahlreich im Jubiläumsjahr 2011 erschienenen Gesamteinspielungen.

Helga Schauerte