Bach, Johann Sebastian

Italian Concertos (BWV 592-94, 596, 974)

Transcriptions for organ

Verlag/Label: Brilliant Classics 94203 (2011)
erschienen in: organ 2011/04 , Seite 46

Bewertung: 4 Pfeifen

Die hier von Matthias Havinga – bei Jacques van Oortmerssen im Künstlerischen Orgelspiel in Ams­terdam sowie bei Jos van der Kooy und Theo Goedhart in Den Haag ausgebildet – eingespielten sechs Konzertbearbeitungen Bachs für Orgel solo nach italienischen Orchesterkonzerten stellen unzweifelhaft einen Höhepunkt in der baro­cken Transkriptionskunst dar. Mit seismographischem Gespür erkannte Bach wohl die Modernität und das Zukunftsweisende der italienischen Concerto-Form für die Entwicklung der Musik im 18. Jahrhundert.
Das grundlegend Neue dieser italie­nischen Concerti ist aber neben oft überraschend gewagten harmonischen Wendungen, ausdrucksvollen Dissonanzen, abrupt abbrechender Kadenzen und anderen aus dem dramatischen Stil entlehnten Stilmitteln hauptsächlich die klare architektonische Anlage, in der schon Hauptthema, (lyrisches) Seitenthema, Reprise etc. angelegt sind. Hinzu kommt das galante Spiel mit Symmetrien, mit der Metrik (Thesis – Arsis) und dem einzelnen Takt als metrischer Urzelle. Bedingung hierfür ist allerdings die Einteilung der Musik in größere thematisch-metrisch durchorganisierte Zusammenhänge und Einheiten mehrerer Takte: den so genannten Periodenbau. Sollte sich ein Interpret dieser Musik nicht vor dem Spiel mit der Einteilung der Takte in „schwere“ und „leichte“, der Nummerierung aller Takte zu größeren periodischen Einheiten von 2, 3, 4, 6, 8 oder mehr Takten befassen? Und wie ist damit umzugehen, wenn die eigentlich „schweren“ Takte (1 und 3) melodisch als „leicht“ empfunden werden, und die leichten (2 und 4) als „schwer“, wie dies etwa zu Beginn der Oberstimme des Adagio des d-Moll-Concerto nach Alessandro Marcello oder in den ersten vier Takten des großen Es-Dur-Präludiums des Dritten Teils der Clavierübung der Fall ist? Entsteht hier eine Art Synkopierung unter den Takten, oder beginnen diese Perioden nicht mit dem ersten, schweren Takt, sondern mit dem vierten oder zweiten, und enden dadurch auf einem schweren Takt? Was bedeuten im Kontext der Interpretation dieser Concerti „zusammengesetzte Taktarten“, und was geschieht, wenn zwei Takte einer Periode in einen zusammengeschoben werden, oder wenn aus zwei Takten eines Dreivierteltakts ein großer hemiolischer Takt wird? Wann zählen diese beiden Takte in der periodischen Zählung weiterhin als zwei, und wann als ein großer Takt? In welchem Fall besteht eine sechstaktige Periode aus 2+2+2, aus 2+4, aus 4+2 oder aus 3+3 Takten? Müssten all diese (kompositorischen) Fragen und viele mehr nicht eigentlich einer gediegenen Interpretation vorausgehen? Erstaunlicherweise: Nein! Wenn sie unbewusst auf so natürliche, einnehmende Art in das Spiel einfließen – aus reiner, echter Musikalität und innerer Empfindung für das musikalisch „Richtige“ –, wie dies bei Matthias Havinga hier in unnachahmlicher Weise zum Ausdruck kommt, dann ist das ungleich wertvoller und überzeugender als bloßes intellektuelles Wissen.
Doch zur Aufnahme selbst: Den ersten Satz des Concerto in a-Moll nach Vivaldi musiziert Havinga in einer Stimmung von „Sturm und Drang“, die der Musik etwas Nördlich-Herbes verleiht, das der Tonart und dem Grundgehalt der Fassung Bachs jedoch sehr entgegenkommt. Im Gegensatz dazu schwelgt der Interpret in den lyrischen Teilen des zweiten Satzes in dunkler italienischer Süße, während im dritten Satz (Allegro) interpretatorisch wie­der die Stimmung des ersten Satzes aufgegriffen wird. Die Artikulation und Registrierung des Kopfsatzes des Concerto in d-Moll nach Vivaldi zeichnen den Kanon und die losgelöst-schwebende Stimmung der Musik deutlich nach, und auch die folgende Fuge erscheint im Vergleich zu anderen Einspielungen erstaunlich plastisch und durchhörbar, obgleich Bach hier wohl die Grenzen barocker touchiert. Der langsame Satz „Largo e spiccato“ hätte in der solistischen Kantilene wohl noch umfangreichere melodisch-improvisierte Verzierungen im Stil der Zeit vertragen, und wirkt hier im Vortrag etwas steif. Der letzte Satz überzeugt aber durch den klaren Anschlag Havingas und die expressive Ausdeutung der Dissonanzen.
Die Wahl des Tempos sowie der Registrierung des C-Dur-Concerto nach Johann Ernst von Sachsen-Weimar hat in der gesamten Dramaturgie dieser Aufnahme und aus dem Bedürfnis nach Abwechslung heraus sicherlich in dieser Form seine Berechtigung – jedenfalls erscheint der Satz so ungewohnt zu­rückhaltend und ausgesprochen ver­innerlicht. Erfreulich ist die Wahl des Tempos im ersten Satz des Concerto in G-Dur nach Johann Ernst von Sachsen-Weimar: ein Satz, der aufgrund der technisch leichten Spielbarkeit oft zu schnell angegangen wird. Bei Havinga gewinnt er durch das diszipliniert gehaltene Tempo an Gravität. Ein interpretatorisch sehr schweres Stück des Bach’schen Œuvres stellt seine Orgelbearbeitung der ursprünglich für Violine solo komponierten Fuge in d-Moll dar. Nicht leicht ist es hier, die Balance zwischen den strengen Fugenteilen und den lyrisch-expressiven und freieren Abschnitten zu finden, die dem Schein nach metrisch losgelöst wirken sollen, obgleich das metrische Grundempfinden trotz dieser Freiheit niemals verloren gehen darf. Hier könnte ein noch größeres agogisches Spekt­rum in den freieren, oft harmonisch-nea­po­litanischen oder dissonanten Wendungen zur Geltung kommen und dem Satz so einen Hauch von „Romantik“, der ihm durchaus innewohnt, geben. Dies gelingt Havinga überzeugender im zeitlos-ent­rückt wirkenden „Rezitativ Adagio“ des Concerto in C-Dur nach Vivaldi, das er in seiner ganzen Empfindungs­tiefe vor dem Hörer ausbreitet.
Den fulminanten, glanzvollen Abschluss, bei dem der Organist noch einmal sein ganzes virtuoses sowie interpretatorisches Können unter Beweis stellt, bilden die Ecksätze des großen Concerto in C nach Vivaldi, die in perlender Leichtigkeit und einer mitreißenden, ungetrübten Spielfreude dahinfließen. Im Großen eine Aufnahme auf einer klangschönen „historischen“ Orgel, die man gerne wiederhört und die ein gelungenes CD-Debüt eines hoffnungsvollen jungen Interpreten darstellt, dem man nur weiterhin Erfolg wünschen kann. 

Eberhard Klotz