Guillou, Jean

Instants op. 57 für Orgel

Verlag/Label: Schott Music, ED 22143
erschienen in: organ 2015/04 , Seite 60

Instants – „Augenblicke“: so sind die fünf flamboyanten Orgelstücke op. 57 von Jean Guillou betitelt, die zwar schon 1998 komponiert und von dem US-amerikanischen Widmungsträger Stephen Tharp im weltberühmten King’s College im englischen Cambridge uraufgeführt wurden, aber erst jetzt ediert werden konnten. Der Titel erinnert an Guillous komplexe, 2011 entstandene Orgelrhapsodie Regard (Betrachtung) op. 77. Hier zieht der Komponist einen großen Bogen in jedwede Richtung – in op. 57 sind es kurze Momente verschiedener Prägung und Stimmung.
Der Wunsch nach technisch leicht spielbaren Orgelkompositionen ist des Öfteren an den Komponisten und Virtuosen Jean Guillou herangetragen worden; er folgte mit den Pièces furtives op. 58 und dem Jeux d’orgue op. 34 diesem Bedürfnis. Mit op. 57 liefert Guillou ein farbiges Sortiment musikalischer Einfälle, die sich jedem Mainstream widersetzen und am ehesten demjenigen Musiker empfohlen werden können, der die große Improvisationskunst dieses außergewöhnlichen Musikers zu schätzen weiß.
Die fünf Stücke geben Einblick in die komplexe intellektuelle Gedankenwelt eines geborenen Improvisators, der die musikalische Vielfalt des Moments durch den zeitlichen Abstand hindurch in die Welt der notierten Musik transformieren kann. Die technischen Hürden bleiben für den Ausführenden gleichwohl enorm: Für denjenigen, der mit dem umfangreichen Orgel-Opus des ehemaligen organiste titulaire von Saint-Eustache in Paris als Interpret vertraut ist, bietet der Zyklus die bekannten Probleme von u. a. virtuosen Pedalpassagen, schnellen Akkordwechseln, und komplexen, kombinierten rhythmischen Strukturen. Dass Guillou während des Kompositionsprozesses an den spie­lerisch hochpotenten Widmungsträger und an dessen unstreitige technische Brillanz dachte, scheint ganz offensichtlich.

Jörg Abbing