Kagel, Mauricio

Improvisation ajoutée

Orgelwerke

Verlag/Label: Wergo WER 73452 (2016)
erschienen in: organ 2016/04 , Seite 58

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An Mauricio Kagel scheiden sich – auch acht Jahre nach seinem Tod – immer noch die Geis­ter. Den einen gilt er als „enfant terrible“, als Anarchist, der gegen das die kulturelle Landschaft beherrschende Estab­lishment wetterte. Den anderen kamen Kagels Arbeiten vor wie clow­neske Spielereien; man betrachtete ihn als Scharlatan, als jemanden, der weit hinter den erreichten Stand zeitgenössischen Komponierens zu­rückfiel. Was Kagels Orgelmusik betrifft: da sieht es kaum anders aus, vor allem angesichts eines Publikums, das zum übergroßen Teil sehr konventionelle bis konservative Hörgewohnheiten pflegt und dementsprechend genau weiß, was es hören will – und was nicht!
Zum Beispiel Kagels Improvisation ajoutée (1962). Die wurde verspottet, weil Geräusche im Sinne der „Musique concrète“ zu gewärtigen waren, die doch (vermeintlich) so gar nichts mit Orgelmusik im hergebrachten Sinne zu tun hatten … Registranten, die doch nur still assistieren sollen, machten sich lautstark bemerkbar. Welch ein Skandal! Und selbstverständlich hat auch ein Zyklus wie Rrrrrrr … aus dem Jahr 1980/81 für Wirbel gesorgt. Knapp vierzig Jahre später klingen diese Acht Stücke für Orgel erfrischend, spannend, innovativ, frech, unakademisch und inspirierend, sorgen also eigentlich noch immer für „frischen Wind“, wenngleich auch nicht mehr im Sinne des „Bürgerschrecks“ par excellence.
Dominik Sustecks Interpretation unterstreicht dies fulminant. Wobei der Organist natürlich den Luxus genießt, sich auf „seinem“ Peter-Instrument, dem der Kunststation St. Peter in Köln, präsentieren zu können – Luxus deshalb, weil er dort „unerhörte“ Register ziehen kann: Ein Xylofon läuft im rasanten, auf dem 32’-Zungen-Fundament grün­denden „Raga“ mit; allerlei anderes Zusatzwerk wie Becken, Harfe, Psalterium kommt später zum Einsatz; omnipräsent ist die immer wieder durchschlagende Wirkung von Tremulanten, nicht zuletzt der Winddrosseln. Kagel wie auf dieser Aufnahme: das geht so nur an dieser Kölner Orgel! An keinem anderen Instrument klingt der „Ragtime-Waltz“ so verwegen wie hier!
Rrrrrrr … ist gewiss Kagels prominentestes Orgelwerk. Dominik Susteck steuert diesen zwanzig Minuten Musik noch den General Bass für kontinuierliche Instrumentalklänge (1972) und die Phantasie für Orgel mit Obbligati (1967) bei – abermals profitiert er von den einzig­artigen instrumentalen Ressourcen. Da entstehen doch immer wieder ziemlich „unerhörte“ Klangereignisse, wie schon beim Einsatz singender Registranten in Improvisa­tion ajoutée. Kagels Phantasie verlangt ausdrücklich zwei Tonbänder, vom Interpreten höchstpersönlich und aktuell anzufertigen! Mit Alltagsgeräuschen und solchen, die das Arbeitsleben dokumentieren – eine Klangcollage ganz individueller und ziemlich imponierender Art, die Sus­teck da entwickelt. Schließlich eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit Kagel: Sustecks fünf auf- und anregende Improvisationen K-A-G-E-L (2012), die Ideen des Meisters aufgreifend, ihnen folgend und sie noch überbietend. Absolut hörenswert!

Christoph Schulte im Walde