Tandberg, Svein Erik
Imagination, Form, Movement and Sound
Studies in Musical Improvisation; mit 4 CDs
Orgel-Improvisation hat seit Jahrzehnten (wieder) Konjunktur als eigener künstlerischer Bereich neben dem Literaturspiel. Die Reflexion darüber ist aber vergleichsweise rudimentär geblieben. Der improvisatorische Gegenstand ist seinem Wesen nach ja spontan, flüchtig und entzieht sich einer Analyse via Notentext. Die hier vorgelegte, in einem langjährigen Forschungsprojekt an der Göteborger Universität erarbeitete Studie bietet nun eine umfängliche Untersuchung des Themas nebst Klangbeispielen (auf 4 CDs).
Der Autor, ein theologisch wie musikologisch kompetenter Organist mit Schwerpunkt Improvisation diesbezüglich Schüler von Franz Lehrndorfer bietet in der ersten Hälfte des Buchs eine beachtliche Zusammenschau des Phänomens in der Historie. Als Norweger mit europäisch weitem Horizont erkundet er die improvisatorische Grundstruktur des Orgelspiels im deutschen Kulturraum von Renaissance und Barock ebenso wie die mit
César Franck begründete modernere französische Tradition, das Phänomen Anton Bruckner (für Österreich) und ein wesentlicher, neuer Forschungsbeitrag die zeitgleiche Kirchenstil-Praxis im Kontext der lutherisch-liturgischen Restauration in Deutschland anhand des damals publizistisch führenden Rheinberger-Lehrers Johann Georg Herzog (1822-1909). Für Ausbildung und Praxis der Improvisation im 20. Jahrhundert sind Heinz Wunderlich, Günther Ramin, Ruth Zechlin, Rolande Falcinelli und Olivier Latry befragt worden. Der Fließtext der Arbeit ist eine englische Übersetzung aus dem Norwegischen, die (umfänglichen) Zitate erscheinen sämtlich in Originalsprache und englischer Übersetzung. Einige längere interessante Quellentexte und Notendokumente sind im Anhang abgedruckt, darunter zeitgenössische Beschreibungen der Improvisationen von Vierne und Reger.
Diese tour dhorizon durch die Orgelmusikgeschichte unter dem Blickwinkel Improvisation dürfte in dieser Umsichtigkeit, Präzision en detail und auch bezüglich der durch den Autor vorgenommenen Wertungen bisher einzigartig sein. Bereits vorliegende Einzelstudien in französischer, englischer und deutscher Sprache sind ausgewertet. Gerade die Zusammenschau z. B. von Franck, Bruckner und Herzog erschließt indes eine neue Dimension.
Den Sound zur Historie erhält man in zwei CD-Projekten mitgeliefert. Das ist zum einen die sehr beachtliche Rekonstruktion eines Weihnachtsgottesdienstes aus den 1870er Jahren an Herzogs Wirkungsstätte Erlangen mit allen liturgischen Elementen inklusive variierend begleitetem Gemeindegesang (von einem Chor gestellt) hier allerdings ohne Predigt. Tandberg setzt an einer Marcussen-Orgel von 1861 Herzogs in seiner Orgelschule vorgestellte Maximen des liturgischen Orgelspiels um; ein Sänger präsentiert ergreifend feierlich die Liturgie mit den in Bayern damals verbindlichen Begleitsätzen aus der Feder von Herzog. Das andere ist an einer modernen Universalorgel eine Improvisationskette in verschiedenen historischen Stilen. Beide Projekte werden vom Autor hermeneutisch reflektiert vorgestellt als Studien ohne den Anspruch historischer Authentizität.
Der zweite Teil des Buchs reflektiert systematisch die beiden Grundfragen Wie improvisiert man? und Wie kann man die Kunst der Improvisation erlernen?. Der Autor ist bestrebt, möglichst viele relevante Dimensionen einzubeziehen, von philosophisch-ästhetischen Grundfragen bis hin zur allgemeinen Analyse von Bewegungs- und Memoriervorgängen. Tenor ist, salopp formuliert: Keine Improvisation fällt einfach vom Himmel, Improvisieren ist prinzipiell erlernbar.
Als Metatheorie, ohne in concreto eine Improvisationsschule bieten zu wollen, bleibt diese Darstellung allerdings doch etwas abgehoben. Vielleicht wäre es ergiebiger gewesen, konkret die Methodik der historisch erhobenen Lehrmodelle und der gegenwärtig reichlich greifbaren Improvisationsschulen zu vergleichen und zu bewerten oder auch jüngere CD-Projekte mit Improvisationen unter die Lupe zu nehmen. Leider nicht mehr diskutiert wird hier die im historischen Fall Herzog so genau benannte Einbindung und Konditionierung von Orgelimprovisation durch liturgische Abläufe und auch nicht die Frage, inwieweit gerade die Orgel als je individuelle instrumentale Persönlichkeit Improvisation einfordert, als Musik, die originär diesem Instrument mit seiner Klangdisposition entspringt und so die jeweilige Orgel in dem ihr zugehörigen Raum künstlerisch zur Entfaltung bringt.
Das dritte beigefügte CD-Projekt, für das eine Scheibe nicht ausreicht, bietet als Ensemble-Improvisation eine künstlerisch individuelle und ambitionierte, von der Theologie Dietrich Bonhoeffers inspirierte Umsetzung einer Ostermesse im dialogischen Wechselspiel von Gregorianik, freiem Avantgarde-Gesang und modern-expressiv behandelter Orgel. Bisweilen fühlt man sich an die Aktionen von Tandbergs norwegischem Landsmann Jan Garbarek erinnert. Eigentlich ist dies eine neue Baustelle Ensemble-Improvisation. Problematisiert wird hier ebensowenig wie bei den anderen Projekten, inwieweit das via CD dokumentierte Klangergebnis nach der Arbeit des Tonmeisters noch etwas Unvorhergesehenes ist, Improvisation beim Wort genommen.
Konrad Klek