Tandberg, Svein Erik

Imagination, Form, Movement and Sound

Studies in Musical Improvisation; mit 4 CDs

Verlag/Label: Art Monitor, Göteborg 2008
erschienen in: organ 2011/04 , Seite 52

Orgel-Improvisation hat seit Jahrzehnten (wieder) Konjunktur als eigener künstlerischer Bereich neben dem Literaturspiel. Die Reflexion darüber ist aber vergleichsweise rudimentär geblieben. Der improvisatorische Gegenstand ist seinem Wesen nach ja spontan, flüchtig und entzieht sich einer Analyse via Notentext. Die hier vorgelegte, in einem langjährigen Forschungsprojekt an der Göteborger Universität erarbeitete Studie bietet nun eine umfängliche Untersuchung des Themas nebst Klangbeispielen (auf 4 CDs).
Der Autor, ein theologisch wie musikologisch kompetenter Organist mit Schwerpunkt Improvisation – diesbezüglich Schüler von Franz Lehrndorfer – bietet in der ersten Hälfte des Buchs eine beachtliche Zusammenschau des Phänomens in der Historie. Als Norweger mit eu­ro­päisch weitem Horizont erkundet er die improvisatorische Grund­struktur des Orgelspiels im deutschen Kulturraum von Renaissance und Barock ebenso wie die mit
César Franck begründete modernere französische Tradition, das Phänomen Anton Bruckner (für Österreich) und – ein wesentlicher, neuer Forschungsbeitrag – die zeitgleiche „Kirchenstil“-Praxis im Kontext der lutherisch-liturgischen Restauration in Deutschland anhand des damals publizistisch führenden Rheinberger-Lehrers Johann Georg Herzog (1822-1909). Für Ausbildung und Praxis der Improvisation im 20. Jahrhundert sind Heinz Wunderlich, Günther Ramin, Ruth Zechlin, Rolande Falcinelli und Olivier Latry befragt worden. Der Fließtext der Arbeit ist eine englische Übersetzung aus dem Norwegischen, die (umfänglichen) Zitate erscheinen sämtlich in Originalsprache und englischer Übersetzung. Einige längere interessante Quellentexte und Notendokumente sind im Anhang abgedruckt, darunter zeitgenössische Beschreibungen der Improvisationen von Vierne und Reger.
Diese tour d’horizon durch die Orgelmusikgeschichte unter dem Blickwinkel Improvisation dürfte in dieser Umsichtigkeit, Präzision en detail und auch bezüglich der durch den Autor vorgenommenen Wertungen bisher einzigartig sein. Bereits vorliegende Einzelstudien in französischer, englischer und deutscher Sprache sind ausgewertet. Ge­rade die Zusammenschau z. B. von Franck, Bruckner und Herzog erschließt indes eine neue Dimension.
Den „Sound“ zur Historie erhält man in zwei CD-Projekten mitgeliefert. Das ist zum einen die sehr beachtliche Rekonstruktion eines Weihnachtsgottesdienstes aus den 1870er Jahren an Herzogs Wirkungsstätte Erlangen mit allen liturgischen Elementen inklusive va­riie­rend begleitetem Gemeindegesang (von einem Chor gestellt) – hier allerdings ohne Predigt. Tandberg setzt an einer Marcussen-Orgel von 1861 Herzogs in seiner Orgelschule vorgestellte Maximen des liturgischen Orgelspiels um; ein Sänger präsentiert ergreifend feierlich „die Liturgie“ mit den in Bayern damals verbindlichen Begleitsätzen aus der Feder von Herzog. Das andere ist – an einer modernen „Universalorgel“ – eine Improvisationskette in verschiedenen „historischen Stilen“. Beide Projekte werden vom Autor hermeneutisch reflektiert vorgestellt als „Studien“ ohne den Anspruch historischer „Authentizität“.
Der zweite Teil des Buchs reflektiert systematisch die beiden Grundfragen „Wie improvisiert man?“ und „Wie kann man die Kunst der Improvisation erlernen?“. Der Autor ist bestrebt, möglichst viele relevante Dimensionen einzubeziehen, von philosophisch-ästhetischen Grundfragen bis hin zur allgemeinen Analyse von Bewegungs- und Memoriervorgängen. Tenor ist, salopp formuliert: Keine Improvisa­tion fällt einfach vom Himmel, Improvisieren ist prinzipiell erlernbar.
Als Metatheorie, ohne in concreto eine Improvisationsschule bieten zu wollen, bleibt diese Darstellung allerdings doch etwas abgehoben. Vielleicht wäre es ergiebiger gewesen, konkret die Methodik der his­torisch erhobenen Lehrmodelle und der gegenwärtig reichlich greifbaren Improvisationsschulen zu vergleichen und zu bewerten oder auch jüngere CD-Projekte mit Improvisationen unter die Lupe zu nehmen. Leider nicht mehr diskutiert wird hier die – im historischen Fall Herzog so genau benannte – Einbindung und Konditionierung von Orgelimprovisation durch liturgische Abläufe und auch nicht die Frage, inwieweit gerade die Orgel als je individuelle instrumentale Persönlichkeit Improvisation einfordert, als Musik, die originär diesem Instrument mit seiner Klangdisposition entspringt und so die jewei­lige Orgel in dem ihr zuge­hörigen Raum künstlerisch zur Entfaltung bringt.
Das dritte beigefügte CD-Projekt, für das eine Scheibe nicht ausreicht, bietet als Ensemble-Improvisation eine künstlerisch individuelle und ambitionierte, von der Theologie Dietrich Bonhoeffers inspirierte Umsetzung einer Ostermesse im dialogischen Wechselspiel von Gregorianik, freiem Avantgarde-Gesang und modern-expressiv behandelter Orgel. Bisweilen fühlt man sich an die Aktionen von Tandbergs norwegischem Landsmann Jan Gar­barek erinnert. Eigentlich ist dies eine neue „Baustelle“ – Ensemble-Improvisation. Problematisiert wird hier ebensowenig wie bei den anderen Projekten, inwieweit das via CD dokumentierte Klang­ergebnis nach der Arbeit des Tonmeisters noch et­was „Unvorhergesehenes“ ist, „Improvisation“ beim Wort genommen.
Konrad Klek