Titelouze, Jean

Hymnes de l’eglise povr tovcher svr l’orgve

Verlag/Label: MarcAurel MA 20033 (2012)
erschienen in: organ 2013/02 , Seite 51

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Einem jedem Organisten und Freund der Orgelmusik ist Jean Titelouze als Begründer der frühbarocken französischen Orgelschule bekannt. Eingeschränkt ist hingegen der Kreis derer, die seine Werke in Liturgie und Konzert aktiv darbieten. An der physischen Zugänglichkeit sollte dies nicht scheitern. Guilmants durchweg zuverlässige Ausgabe (Schott) ist nach wie vor ohne Probleme erhältlich. Das Problem scheint vielmehr in der Musik selbst zu liegen. Das umfangreiche Œuvre des Roueneser Kathedralorganisten erweckt den Eindruck, sich einem spontanen interpretatorischen Zugriff eher zu verschließen als zu öffnen. Titelouze gilt als spröde, komplex und akademisch. Die Poesie, die Zeitgenossen an seiner Musik rühmten, erschließt sich offenbar nicht auf den ersten Blick.
Dementsprechend vermitteln viele Einspielungen auch ein Bild stilis­tischer Hilflosigkeit. Zwischen tro­ckenem, uninspiriertem Abspielen der Partitur und Überfrachten der Musik mit kaum passenden Verzierungen, die eher der darauf folgenden Époque classique entstammen, ist vieles zu finden. Der spezifische Charakter dieser Musik ist dabei allerdings nur selten getroffen.
Umso gespannter erwartete man die lange angekündigte erste Gesamtaufnahme (!) der Hymnen durch Markus Goecke. Ganz offensichtlich liegt der Aufnahme eine intensive Beschäftigung des Interpreten mit Titelouze zugrunde. Goecke ist bemüht, durch intensives Studium der Quellen und die sorgfältige Auswahl des Instruments dem Meister so nahe wie möglich zu kommen. Deutlich wird das insbesondere in der Wahl der Verzierungen. Der Interpret beschränkt sich nicht auf die üblichen Triller und Mordente, sondern fügt zahlreiche Diminutionen ein. Dabei gelingt ihm das Kunststück, einerseits nach Titelouzes ausdrücklichem Willen die Musik reich zu verzieren, gleichzeitig bleiben die kontrapunktischen Strukturen völlig transparent. Höchst elegant ist auch die subtile Artikulation, die in jedem Moment kantabel bleibt. Tatsächlich gewinnt die vermeintlich spröde Musik des französischen Meisters unter Goeckes Händen eine große Feierlichkeit und gesangliche Note, und man beginnt hier zu ahnen, was den Komponis­ten zu Lebzeiten so berühmt machte.
Ein weiterer Glücksfall ist die Orgel der Kirche St. Michel in Bolbec (Normandie). Das 1630 errichtete Instrument stand ursprünglich in der Kirche Sainte-Croix in Rouen, in unmittelbarer Nähe von Titelouzes Wirkungsstätte (die heute ein Nachkriegsinstrument beherbergt). So ist es naheliegend, dass der Komponist diese Orgel kannte und möglicherweise auch ihren Bau beeinflusst hat. Konsequenterweise verzichtet Goecke auf die Verwendung der später hinzugefügten Manuale Récit und Echo, so dass nur „authentischer“ Registerbestand erklingt. Die Registrierungen sind stilgerecht an die Angaben von Mersenne angelehnt, die wahrscheinlich auf Empfehlungen von Titelouze persönlich zurückgehen. Das Klangbild ist von bestechender Klarheit und deutlich intimer, als man es von den großen spätbarocken Instrumenten her kennt.
Die Versionen der durch das Ensemble Vox Resonat klangvoll ge­sungenen Hymnen gehen auf ein Büchlein mit dem Titel Heures de Nostre Dame von 1589 zurück und vermitteln gleichfalls in dieser Fassung eine größtmögliche atmosphärische Nähe zum Komponisten.
Die in jeder Hinsicht stimmige und überzeugende Einspielung ist als Referenzaufnahme anzusehen, an der sich künftige Interpretationen werden messen lassen müssen.

Axel Wilberg