History of the Organ

4 DVDs

Verlag/Label: Arthaus Musik 107508 (2011)
erschienen in: organ 2011/03 , Seite 54

3 Orgelpfeifen

„Die Orgel ist ohne Zweifel das am wenigsten bekannte von allen gro­ßen klassischen Musikinstrumenten. Dabei blickt sie auf eine reiche Tradition zurück, an der man kulturelle, religiöse und insbesondere auch gesellschaftliche Veränderungen genauso ablesen kann wie jeden technischen Fortschritt“, so der Erzäh­ler etwas leutselig am Beginn der ersten von insgesamt vier (Bild-) DVDs …
Eine rasante Kamerafahrt durch die Basilika im oberschwäbischen Weingarten mit ihrer weltbekannten spätbarocken Monumentalorgel Joseph Gablers untermalt den Auf­takt der vierteiligen Serie History of the Organ visuell – eine lange Geschichte, die bekanntlich bereits in der An­tike beginnt: mit dem rohrblatt­artigen Aulos der altgriechischen Schäfer. Er geht der Orgel instrumentenkundlich voraus und gibt uns eine Vorstellung von Klang der frühesten Orgelwerke. Das Instrument selber, die sogenannte Orgelmaschine (Hydraulis), wurde im 3. Jahrhundert vor Christus von dem alexandrinischen Ingenieur Ktesebios erfunden. Mit einem hydraulisch betriebenen Blasebalg führte er Luft in eine Windlade, über der Pfeifen in abnehmender Größe platziert waren. Durch diese Pfeifen gelangte die Luft mittels eines Ventils. Das Instrument wurde im ganzen Römischen Reich schnell beliebt. Spätestens als Konstantin V. dem Frankenkönig Pippin im Jahre 757 ein Exemplar als Geschenk übersandte, wurde die Orgel auch nördlich der Alpen bekannt. Die christlichen Mönche bauten solche Instrumente, die ursprünglich eher für Tanzmusik benutzt wurden, für den sakralen Gebrauch nach. Von kleinen tragbaren „Portativen“ führte die Entwicklung über Bolckwerke im Mittelalter bis hin zu jenen grö­ßeren werkteiligen Orgeln, die ganze Kirchenemporen ausfüllen konnten. Mehrere Orgelbauer gewähren in der vierteiligen DVD-Serie kleine Einblicke in die Komplexität der Welt des Orgelbaus.
Von Italien geht die Reise zunächst ins gleichfalls katholische Spanien, wo der Orgelbau im 16. Jahrhundert aufblühte. Etwas klischeehaft-lapidar erfährt man: „Die Spanier lieben Orgeln mit einem lauten, brillanten Klang und mit Regis­tern aus Trompeten und Bombarden, die ihren Klang auf das Publikum lenken. Sie lieben Trompetenbatterien von lautstarken Zungenpfeifen, die unter dem Namen Trompeterias bekannt sind.“ Illustriert wird dies mit allerlei bekannteren und unbekannten iberischen Werken.
Die zweite DVD führt in eines der wichtigsten musikalischen Zentren des nachmittelalterlichen Europa: nach Amsterdam. Der epochemachende Organist der Amsterdamer Nieuwe Kerk war Jan Pieterszoon Sweelinck. Von Sweelinck wird ein Bogen gespannt über Dietrich Bux­tehude, den berühmten Lübecker Organisten, bis hin nach Weimar und Leipzig zu Johann Sebastian Bach. Man sieht und hört einige der Orgeln, auf denen J. S. Bach spielte. Aber auch das Pariser Orgelbaugenie des 19. Jahrhunderts, Aristide Cavaillé-Coll, wird mit einem seiner am besten im Originalzustand erhaltenen Instrumente in Lyon gewürdigt. Orgelbauer wie Isnard und Cliqout werden vorgestellt.
Der Zuschauer (Hörer) reist mit der Kamera und dem Mikrofon quer durch Europa, durch die Jahrhunderte, von Land zu Land, von Landschaft zu Landschaft, von Kirche zu Kirche. – Und man kann im Hauptmenü der DVDs zwischen vier verschiedenen Sprachen – außer Deutsch: Englisch, Französisch und Spanisch – wählen.
Diese Publikation richtet sich erkennbar nicht primär an den Orgelfachmann, also den in allen organologischen Details bereits beschlage­nen Kenner. Für diesen wären populistisch anmutende Botschaften wie „es gehör[e] zum Wunder der Orgel, dass so eine Familie von Pfeifen, die alle verschiedene Klänge erzeugen, harmonisiert, sodass man den Eindruck eines einzigen vollen und runden Klangs hat“, wie sie der belgische Organist Bernard Focroulle artikuliert, freilich von bescheidenem Erkenntnis- und Nährwert. Gleichwohl erläutert Focroulle für den Laien anschaulich, wie dieser Klang zustande kommt, und erklärt diesem gewisse Fachbegriffe und technische Eigenarten der Orgel. Aber auch Marie-Claire Alain, André Isoir, Gustav Leonhardt, René Saorgin und andere prominente Organisten kommen hier repräsentativ für ihre Zunft zu Wort.
Musik und Orgelbaukunst haben sich permanent weiterentwickelt. In allen Jahrhunderten – und so vor allem nochmals im 20. Jahrhundert – entstanden Orgeln mit neuen, teils experimentellen Klangmöglichkeiten. Wer will, kann diese im angenehmen Sinne „unterhaltsame“ Do­kumentation als Konzertreise genießen; es werden dankenswerterweise auch ganze Kompositionen gespielt. Man kann sich mittels der vier DVDs aber auch auf eine informative, aber nie in spröder Weise schulmeisterliche, höchst sinnliche Bildungsreise einladen lassen. Die praktische Menüführung erlaubt beides, je nach Interesse. Regisseur Nat Lilenstein ist hier ein für Musikfreunde unterschiedlichs­ter Provenienz genießbares – und vor allem leicht verdauliches – Panorama der Welt der Orgel gelungen, das akus­tisch und optisch gleichermaßen reizvoll und informativ ist, ohne dabei freilich den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit im musikologischen Sinne zu erheben.
Dieter David Scholz