Joachim, Joseph (1831–1907)

Hebräische Melodien op. 9 Nr. 3

für Viola und Orgel bearbeitet von Martin Forciniti

Verlag/Label: Edition Merseburger EM 1871
erschienen in: organ 2016/03 , Seite 61

Im Gefolge der Aufklärungszeit entwickelte das aschkenasische Judentum Mitteleuropas im Laufe des 19. Jahrhunderts ein starkes Bestreben zur sprachlichen und kulturellen Assimilation. Das führte im deutschsprachigen Raum unter anderem dazu, dass in der Musikpraxis der Synagogen eine Verschmelzung jüdischer Traditionen mit abendländischer Kunstmusik stattfand. Einstimmiger Gemeindegesang mit Begleitung eines Tas­teninstruments wurde zu einem Bestandteil der (liberalen) jüdischen Gottesdienstpraxis, und auch die Orgel hielt dort als traditionell christlich geprägtes Kultinstrument nun ihren Einzug.
Musik, die in diesem Rahmen komponiert wurde, kam mit Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Mode und ist heute weitgehend wieder vergessen. Sie in Form von Noten­editionen wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, ist das Anliegen der im Merseburger-Verlag erscheinenden Reihe „Synagogalmusik“, in der bisher bereits Orgelwerke von Moritz Deutsch, Josef Löw und Louis Lewandowski publiziert wurden (s. a. die Notenbesprechungen in organ 2/2012 und 3/2015 – www.organ-journal.com).
Nicht direkt diesem Repertoire zuzuordnen sind die drei Hebräischen Melodien, die Joseph Joachim im Jahre 1855 für Viola mit Begleitung des Klaviers komponierte und als sein Opus 9 veröffentlichte. Es handelt sich bei ihnen nämlich um literarisch inspirierte Charakterstü-cke. Den Entstehungsimpuls bildeten nach Joachims Aussage „Eindrücke der Byron’schen Gesänge“, ohne dass sich im Einzelnen eine engere Beziehung der Kompositionen zu speziellen Dichtungen aus Lord Byrons umfänglichem Gedichtzyklus der Hebräischen Gesänge feststellen ließe, in dem der Dichter Motive des Alten Testaments und der jüdischen Geschichte aufgreift. Johannes Brahms, enger Vertrauter Joachims, zeigte sich beim Kennenlernen von dessen Vertonungen recht angetan und charakterisierte sie als in ihrer Wirkung „wunderbar ergreifend“.
Die Nummer 3 („Andante cantabile“) von Joachims Hebräischen Gesängen liegt nun als siebter Band der Reihe „Synagogalmusik“ in einer Übertragung für Viola und Orgel vor, wobei die Stimme der fast durchgängig melodieführenden Bratsche unverändert blieb. Auch die Änderungen im Klavierpart geschahen mit großer Zurückhaltung: Gelegentlich finden sich Stimmverläufe um eine Oktave transponiert, und vor allem wurden jene auf dem Flügel der Sonorität wegen sinnvollen Oktavverdoppelungen der Bass­stimme beseitigt, die auf der Orgel durch 16-Fuß-Register ersetzbar sind. Im etwas bewegteren, dunkler schattierten Mittelteil des in typischer A-B-A-Form komponierten Stücks hat der Herausgeber (im Vergleich zur Druckausgabe von Breitkopf & Härtel aus dem Jahr 1888) die Vorzeichen ab Takt 86 zu sechs (statt fünf) verändert, was anfangs zwar harmonisch sinnvoll erscheint, bei der Rückführung zum A-Teil (Takt 122 ff.) allerdings in einigen vergessenen Auflösungszeichen resultiert, die der versierte Interpret freilich leicht korrigiert.

Gerhard Dietel