Bach, Johann Sebastian
Goldberg-Variationen: ARIA mit verschiedenen Veränderungen BWV 988
Bewertung: 5 Pfeifen
Den vierten Teil seiner Clavier-Übung, bestehend aus einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen hat Bach im dem von ihm selbst veranlassten Erstdruck von 1741 ausdrücklich vors Clavicimbal mit 2 Manualen bestimmt. Warum sollte man dieses Werk, das später nach seinem ersten Interpreten, Johann Gottlieb Goldberg (einem hochbegabten Schüler Wilhelm Friedemann und Johann Sebastian Bachs), die geläufige Bezeichnung Goldberg-Variationen erhielt, nach wohlfeiler barocker Manier nicht ebenso auf der Orgel spielen? Diesem Projekt hat sich Martin Schmeding mit seiner Einspielung verschrieben.
Schmeding, der seit 2004 als Professor für Orgel an der Freiburger Musikhochschule wirkt, verweist darauf, dass die polyphone, zudem mehrmanualige und vielchörige Orgel sicher eine adäquatere Darstellung der kontrapunktischen Partitur gestattet als etwa der moderne Konzertflügel: besonders gilt dies für die Duo-Variationen, in denen vielfach Stimmkreuzungen auftreten, was selbst Klaviergrößen wie Glenn Gould in den einschlägigen Klaviereinspielungen nicht befriedigend gelöst haben.
Authentizität wird überhaupt in Schmedings Interpretation großgeschrieben: Ganz anders als beispielsweise der pianistische Jungstar Martin Stadtfeld modifiziert er den Notentext nur sehr sparsam, wenn an wenigen Stellen Oktavtranspositionen notwendig werden. Freilich erscheint Bachs Werk durch seine Versetzung in das heute zumindest ungewohntere Medium der Orgel auch in fremdem Licht. Wo auf dem Cembalo die Linienführung im Vordergrund steht, da fügt die Orgel kontrastierende und changierende Klangfarben hinzu und verbreitert sie ins somit Flächige: Die cembaleske Zeichnung wird so zum organistischen Tongemälde, ohne dass dabei jedoch die Strukturen verloren gingen. Schmedings Registrierungen reagieren ausdrücklich auf Bachs rational durchdachten Aufbau der Variationenfolge (einzelne Strukturanalysen Gerd Zachers, die weitgehend nachvollziehbar sind und sich nicht zu sehr ins Zahlensymbolisch-Spekulative verlieren, sind zum Verständnis des Hörers im CD-Booklet abgedruckt).
Mit der 1755 eingeweihten, noch von Gottfried Silbermann geplanten und begonnenen Orgel in der Dresdner Hofkirche steht Schmeding dabei ein historisch adäquates Instrument mit einer opulenten spätbarocken Klangvielfalt zu Gebote, das in seinem vorbildlich restaurierten Pfeifenbestand dank rechtzeitiger Auslagerung im Jahre 1944 weitestgehend original erhalten ist (Gehäuse und Balganlage gingen allerdings im Bombenangriff vom Februar 1945 unter).
Gleichsam das Rückgrat der Interpretation bilden die virtuosen zweistimmigen Variationen (von Nr. 5 aus die jeweils drittnächsten Nummern des Zyklus), welche eine allmähliche Steigerung in den wachsenden Plenumklang hinein erfahren. Lockerer geht Schmeding bei den Kanons vor, die von Nr. 3 an ebenfalls in Dreierschritten die Variationenfolge gliedern, sorgt hier aber auch für gewisse Korrespondenzen, indem er häufig eine Art Streichersatz herstellt. Klare Zäsuren bilden ferner die Nr. 16 als gravitätische Französische Ouvertüre im Grand-Chr-Klang mit verkoppelten Plenumzungen dem Präludium in Es (BWV 552) hier überraschend verwandt klingend und die besonders affektvoll realisierten g-Moll-Variationen. Das klingend-klangliche Ergebnis fällt sehr überzeugend aus; mustergültig ist die Dokumentation der Orgeldisposition sowie aller Registrierungen im CD-Booklet.
Gerhard Dietel