Lewandowski, Louis

Fünf Stücke op. 46 für Orgel | Hebräische Weisen op. 45 für Orgel

hg. von Martin Forciniti

Verlag/Label: Edition Merseburger (Reihe Synagogalmusik), EM 1869 | EM 1870
erschienen in: organ 2015/03 , Seite 63
Die Reihe „Synagogalmusik“ des Merseburger Verlags erschließt ein bisher unbeachtetes Orgelmusikrepertoire, in dem sich jüdische Tradition und abendländische Kunstmusik verschwistern. Nach Publikationen mit Werken von Moritz Deutsch und Josef Löw steht nun in den jüngsten Bänden Louis Lewandowski (1821–94) im Mittelpunkt. Der Kirchenmusiker Martin Forciniti zeichnet als Herausgeber der Hebräischen Weisen op. 45 und der Fünf Stücke op. 46 Lewandow­skis, der seit 1840 Chorleiter der jüdischen Gemeinde in Berlin war und neben liturgischer Chormusik auch Solowerke für Klavier, Harmonium oder Orgel schrieb.
 
Die Fünf Stücke op. 46 sind wohl vom Harmonium aus erdacht; in der vorliegenden Orgel-Edition wurden sie mit einer eigenen Pedalstimme versehen. Die originalen dynamischen Vorschriften – Crescendo- und Decrescendo-Gabeln – wurden beibehalten, was ein (romantisches) Schwellwerk voraussetzt. Technisch bieten die relativ kurzen Stücke dem versierten Organisten keine Schwierigkeiten und sind gut geeignet für den Gebrauch in der Liturgie. Stilistisch dokumentieren sie mit ihrer klassisch-romantischen Musiksprache das kulturelle Assimilationsbestreben des liberalen, gebildet-bürgerlichen deutschen Judentums. 
Die einzelnen, in gemäßigten bis langsamen Tempi verlaufenden Stü­cke sind sanglich gehalten und vorwiegend homophon gefasst, doch mit gelegentlichen polyphonen Ansätzen wie im Sopran-Bass-Kanon von Nr. 2. Dass die Musik Felix Mendelssohns, die Lewandowski in Berlin auch im persönlichen Kontakt mit der Familie kennenlernen konnte, bis zu einem gewissen Grad vorbildhaft war, ist deutlich zu spüren. Besonders bemerkenswert ist die den Topos des „Adagio religioso“ vertretende Nr. 5, ein „Stilles Gebet“, das kurz vor Schluss recht eigenwillig durch abgerissene Sfor­zato-Akkorde unterbrochen wird.
 
Eher pianistische Züge tragen die Hebräischen Weisen op. 45, die, anders als der Titel vermuten lässt, eine einzige zusammenhängende Komposition von 240 Takten Umfang bilden. Hier zielte Lewandow­ski offenbar auf ein Bravour- und Effektstück ab, das in der vorliegenden Orgeledition vom Spieler allerhand schnelles Figurenwerk im Manual und Pedal verlangt. 
Auf Toccatenart beginnt die Komposition im Wechsel von geschwinden Pedalsoli und massiven Akkorden. Inwieweit in den folgenden, recht unvermittelt neben der virtuosen Umgebung stehenden „Andante“-, „Moderato“- und „Adagio“-Abschnitten authentische jüdische Musik zitiert wird, lässt sich ohne Kenntnis möglicher Vorlagen nicht ermessen. Erinnert fühlt man sich beim Spielen eher an die begrenzt erfindungskräftige Musiksprache von Klaviersonatinen des 18./19. Jahrhunderts mit ihren stereotypen Begleitfiguren und schus­terfleckartigen Fortführungen.
 
Gerhard Dietel