Frozen Time
John Cage: organ2 / ASLSP; Toshio Hosokawa: Cloudscape / Sen IV; Dominik Susteck: Carillons IIII
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Den Anfang macht ein mikrotonal gespreizter Akkord, der plötzlich durch einen vollen Pedalton geerdet und zum leuchtenden Spektralklang umgefärbt wird. Auch im weiteren Verlauf der dreiviertelstündigen Version von John Cages organ2/ASLSP entgleiten den Orgeltönen ihre sonst strikt fixierten Höhen, so dass sie sich wechselseitig zu komplexen Aggregaten und hochenergetischen Schwebungen überlagern.
Dominik Susteck nutzt reichlich die erweiterten Spiel- und Klangmöglichkeiten der von Peter Bares begründeten Spezialorgel für neue Musik an der Kunst-Station Sankt Peter Köln. Mittels variierter Dynamik, Registrierung und Lage gestaltet er ebenso erfindungsreich wie hellhörig verschieden schnelle Amplitudenmodulationen zwischen mehreren Tönen. Das Ziel sind Schattierungen von einzelnen Interferenzen über dumpfes Brummen, gleißende Cluster und vollklingendes Orgelwerk bis zu zart durch den Raum schwebendem Lufthauch. Hörend gut nachvollziehbar ist, wie sich an- und abschwellende Schmelzklänge langsam aufrauen und sukzessive in geräuschhaftes Rattern übergehen, um endlich neue Differenztöne hervorzubringen. Besonders faszinierend daran sind die Umschläge von Tonhöhen-Hören in Klangfarben-Hören. Cages Stück von 1987 vollzieht so eine überraschende Anamorphose an das orchestrale Klangfarbenkomponieren der 1960er Jahre, allen voran György Ligetis Atmosphères.
Möglich ist diese erstaunliche Verwandlung nur durch die Offenheit von Cages Partitur. Der Interpret hat alle Freiheiten bei der Gestaltung von Dynamik, Registern und Tempo, wodurch sich Susteck auch zur Manipulation des Winddrucks legitimiert sieht. Der seit 2007 amtierende Nachfolger von Peter Bares als Organist an Sankt Peter Köln erweist sich einmal mehr als kongenialer Interpret verschiedenster Werke auf dem besonderen Kölner Instrument.
In seinen drei eigenen Improvisationen Carillon IIII steuert Dominik Susteck über das MIDI-Interface vom Spieltisch aus zugleich verschiedene mechanische Klangerzeuger des Kerpener Instrumentenbauers Gerhard Kern. Die ungewöhnlichen Spielregister der Orgel darunter Xylophon, Glocken, Cymbeln, Bronzeplatten, Becken und ebenso orgeluntypisch Harfe, Sirene, Trillerpfeife, Hahnschrei und Jauler verbinden sich mit den überwiegend perkussiven Zusatzinstrumenten zu einer Gesamtapparatur, deren Klänge tiefengestaffelt in den Kirchenraum ausgreifen.
Mit zwei neu eingespielten Werken auf der CD vertreten ist ferner Toshio Hosokawa. Dessen Cloudscape von 2000 beginnt mit langsam umgeschichteten Liegetönen wie von der japanischen Mundorgel Sho, die nach bewegterem Mittelteil wiederkehren. Sen IV von 1990 lebt dagegen vom Kontrast geräuschvoller Klangballungen gegen feine Haltetöne und singuläre Akzente. Im Dazwischen dieser Extreme entsteht dann eben jenes atem- und spannungsvolle Ma, das so zentral ist für die japanische Philosophie, Kunst und Musik.
Rainer Nonnenmann