Franck avant César Franck

Offertoires & Pièces posthumes

Verlag/Label: Aeolus AE-10341 (2017)
erschienen in: organ 2017/03 , Seite 50

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Es ist bekanntlich noch kein Meis­ter vom Himmel gefallen – nicht einmal César Franck (1822–90) mit seinen epochalen Beiträgen zur französisch-romantischen Orgelkunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Seine 1868 veröffentlichten Six Pièces (opp. 16–21) markieren nicht weniger als einen wahren „Quantensprung“ in der damaligen Klangästhetik der Orgel. Doch bis dahin hatte der Meister von Sainte-Clotilde selbstverständlich eine Entwicklung seiner Tonsprache hinter sich, die Elke Völker auf ihrer CD Franck avant César Franck hörbar und damit konkret erfahrbar werden lässt.
Zehn Stücke sind dokumentiert, entstanden innerhalb eines Zeitraums von rund zwanzig Jahren (bis etwa 1860) – Stücke, die größtenteils posthum herausgegeben worden oder wie die Pièce pour grand orgue en la majeur erst seit 1999 im Druck verfügbar sind. Letztere schrieb Franck 1854 zur Einweihung der neuen Ducroquet-Orgel in St-Eustache in Paris. Sie nimmt mit ihrem ruhigen, von inniger Stimmung geprägten Mittelteil Momente der späteren Pastorale op. 19 oder der Fantaisie op. 16 vorweg – wie überhaupt in vielen der von Elke Völker mit lebendiger Agogik und bril­lantem Zugriff gestalteten Werken schon deutlich der „reife“ Franck quasi prospektiv hörbar wird. So etwa auch in den oftmals orchestral und mit kraftvollem Zungen-Klang angelegten Offertoires. Dagegen erinnert Grand Chœur en Mi bémol majeur eher noch an den postrevolutionären Stil, wie ihn Lefébure-Wély extensiv pflegte, wenngleich Franck harmonisch reicher gestaltet als dieser. Im Fall der Pièce en mi bémol von 1846 muss man Franck allerdings auch attestieren, das Gefühl für perfekte Proportionen (noch) nicht recht ausgebildet zu haben: gut zwölf Minuten Spielzeit, von denen allein zwei auf den hier kaum enden wollenden Schlussteil entfallen! Da fehlte dem jungen Komponisten zuweilen offenbar der korrigierende Rotstift.
Dies ist aber auch die einzige Einschränkung hinsichtlich der beträchtlichen Qualität all der eingespielten Stücke. Umso erstaunlicher, dass sie, abgesehen vom „Andantino“, Francks erstem veröffentlichten Orgelwerk, bislang im gängigen Orgel-Konzertbetrieb zumindest weitestgehend unbekannt geblieben sind. Möglich, dass Elke Völkers ausgezeichnet gelungene Aufnahme an der hübschen zweimanualigen Cavaillé-Coll-Orgel in der neugotischen Basilique Notre-Dame de Bonsécours (Normandie) ihnen zu neuem Dasein verhilft. Das klangschöne Werk erweist sich als nachgerade idealer instrumentaler Partner: mit nur 29 Registern ungewöhnlich kraftvoll – und mit allem ausgestattet, was für diese Musik Francks notwendig ist. Aufschlussreich auch der lesenswerte Booklettext von Kurt Lueders (Paris); die Aufnahmetechnik des Labels Aeolus ist von gewohnter hoher Qualität.

Christoph Schulte im Walde