Fortuna desperata

Orgelmusik aus Gotik und Renaissance

Verlag/Label: Genuin GEN 17453 (2017)
erschienen in: organ 2017/02 , Seite 54

4 von 5 Pfeifen

Betagtere Zeitgenossen haben noch die Schreckensbilder jener Sprengung vor Augen, mit der das DDR-Regime 1968 die Leipziger Universitätskirche mutwillig zerstören ließ. Nun ist St. Pauli wieder trutzig „auferstanden aus Ruinen“ u. a. samt einer Schwalbennestorgel (OW, UW, P) in zunächst erster Ausbaustufe: 7 von 18 Registern nach der von Michael Praetorius (Syntagma II, 1619, S. 116) überlieferten Disposition. Hauptamtlicher Organista loci ist der 1978 geborene Daniel Beilschmidt, der an dieser „neue(n) Orgelmusikstätte […] eine prägende Rolle für die Musikgeschichte Leipzigs“ etablieren möchte.
 22 Titel repräsentieren eine illus­tre Schar von Quellen (Robertsbridge, Faenza, Buxheim, Stendal, St. Gallen) und Komponisten (Ano­nymus, Ileborg, Vitry, Busnois, Hofheimer, Buchner, Kleber, Calvisius). Die Klangwelt der Motetten­inta­volierung Adesto firmissime, einem der frühesten erhaltenen Klangdokumente für Orgel überhaupt (Robertsbridge 1320), mit konsistentem Ténor und schweifendem Discantus unterscheidet sich erheblich von den etwa zweihundert Jahre später entstandenen linearen Kompositionen Johann Buchners wie dem Tricinium über die Liedweise Fortuna, die das Verzweiflung bereitende Glück, Geschick, thematisiert.
Trotz der Charakteristik ihrer Einzelstimmen bietet die Orgel einen ausgesprochen vokalen Charakter, weich, singend, dennoch zeichnend. Diese Eigenschaften treten höchst positiv in Verbindung mit der dynamisch wie farblich flexiblen Sopranstimme Christine Mothes’ hervor, wenn sich ein alternatim-praktischer Dialog entspinnt wie bei Nr. 5–6, Faenza: Kyrie, Gloria Cunc­ti­potens. Obwohl nur sieben Register zur Verfügung stehen, weiß Daniel Beilschmidt in immer neuen Kombinationen der Stimmen samt Transmissionen Oberwerk und Koppeln (UW-OW, UW-P, OW-P) das St. Pauli-Instrument in mancherlei Farben vorteilhaft zur Geltung zu bringen und auch seine Spielweise der geforderten Diktion technisch wie artikulatorisch souverän anzupassen.
Gewünscht hätte ich mir angesichts des wenig gängigen Repertoires Hinweise zu den Spielvorlagen, nicht zuletzt um festzustellen, ob etwa die Ausgaben von Willi Apel (1969, Corpus of Early Keyboard Music 1), Dragan Plamenac (1972, Keyboard Music of the Late Middle Ages – CMM 57) usw. noch aktuell sind bzw. wie sich gelegentliche Abweichungen erklären. Im Booklet sind die beiden Asterisken (**) falsch positioniert: Wo sechsmal Glocken läuten sollen, ertönt die Orgel. Die Wörter Sequitur und Incipit gehören indes nicht zum originalen Werktitel, machen deshalb nur stutzig (sollten daher besser entfallen). Daniel Beilschmidt steuert zwei eigens angefertigte Intavolierungen bei, das „Sanctus“ aus Machauts Messe de Nostre Dame und Fortuna desperata von Busnois/ Agricola. Welchen Sinn macht das? Machaut komponierte dezidiert iso­rhythmische Perioden und Hoqueten, die in der Intavolierung überhaupt nicht in Erscheinung treten. Es gibt doch eigentlich genug Originalliteratur …

Klaus Beckmann