Joachim Roller
Festliche Choralconcerti
für Ein- und Auszug für Orgel, Band 2
Gustav Beckmann wird heute nur noch Spezialisten ein Begriff sein. Und doch zählte der an der Essener Kreuzeskirche wirkende Organist, Chorleiter und Pädagoge zu den bekanntesten Kirchenmusikerpersönlichkeiten seiner Zeit. So fungierte er neben anderen bekannten Größen wie Karl Straube als Gründer des „Evangelischen Organisten-Vereins für Rheinland und Westfalen“, dem heutigen „Verband für Kirchenmusik in der Evangelischen Kirche im Rheinland“. Dieser hat nun anlässlich seines 125-jährigen Bestehens die Ausgabe einer Sammlung von Choralvorspielen Gustav Beckmanns aus dem Jahr 1902 neu aufgelegt. Die zwölf Choralbearbeitungen bekannter Kirchenlieder sind liturgisch gut verwendbar und vom Schwierigkeitsgrad her recht variabel.
Das anfängliche „Jesu, meine Freude“ findet sich in einer Manualiter-Fassung, ebenfalls aber auch in einer anspruchsvolleren mit Pedal, stilistisch an J. S. Bachs Orgelbüchlein erinnernd. Andere Choräle wie „Wachet auf“ sind eher im Stil von Max Reger (dem Beckmann seine Symphonische Fantasie und Fuge
op. 57 widmete) op. 135a gehalten, aber durchaus wirkungsvoll. Recht diffizil und technisch anspruchsvoll ist „Dir, dir, Jehovah“ oder auch das die Sammlung beschließende Choral-Präludium „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“, welches eine gute Pedaltechnik verlangt. Aber auch einfachere Stücke wie „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!“ klingen schön und lassen sich an entsprechender Stelle gut verwenden. Praktischerweise ist einigen Stücken eine transponierte Fassung zur Angleichung an die Tonarten im aktuellen Evangelischen Gesangbuch beigegeben.
Christiane Michel-Ostertun (geb. 1964) ist schon seit vielen Jahren eine feste Größe im Bereich der Orgel-Improvisation. Ihre kürzlich vorgelegten Festpräludien sind größtenteils auf Choralmelodien zurückgehende klangvolle Kompositionen. Der Clou hierbei jedoch ist – und nicht zu Unrecht fühlt man sich dabei an eine ähnliche diesbezügliche Praxis bei Girolamo Frescobaldis Fiori musicali erinnert –, dass die Stücke in ihrer Länge variabel und mit Abkürzungen und teilweise auch Alternativschlüssen versehen sind.
Durchweg zeichnen sich die Werke durch eine große Spielfreude aus. Auch hier gibt es durchaus knifflige Stellen wie gleich zu Beginn beim „Nun danket all und bringet Ehr“ im Pedal oder auch beim für die Hände recht haarigen Halleluja. Das O du fröhliche verlangt beim Lesen genaues Hinsehen, da das quasi in D-Dur stehende Stück wegen häufigem Wechsel in B-Tonarten keine Vorzeichnung hat und nur mit Versetzungszeichen versehen ist. Insgesamt ist dies eine schöne und im Gottesdienst oder durchaus auch im Konzert gut verwendbare Sammlung von nicht allzu komplizierten, aber keinesfalls anspruchslosen originellen Stücken.
Etwas einfacher sind die Intro- und Outroludien von Markus Nickel. Die 20 choralungebundenen Stücke sollen dem Willen des Autors nach die Gottesdienst-Besucher freundlich empfangen bzw. gut gelaunt entlassen. Diese Intention trifft der Autor mitten ins Schwarze. Die insgesamt recht einfach zu spielenden, oft in ternär jazzig-swingendem Rhythmus verlaufenden Stücke sind eine Art „Gute-Laune-Musik“. Die originellen Titel sind dabei programmatisch und selbsterklärend, aber was Gäschiprell bedeutet, hat sich mir leider nicht erschlossen; über einen Hinweis, etwa im Vorwort, wäre ich dankbar gewesen.
Aus einer gewissen „Elfenbeinturm“-Sicht heraus gesprochen könnte man die Stücke auch als mehr oder weniger „niederschwellig“ bezeichnen. Andererseits werden das Instrument Orgel und die damit verbundene Musik ja nicht umsonst öfter mit Attributen wie „zu laut, schwermütig, kompliziert etc.“ konnotiert. Vielleicht denken wir als Interpreten für einen offenbar nicht gerade kleinen Kreis von Zuhörern manchmal zu „hochschwellig“? Am letzten Sonntag wurde ich nach dem Gottesdienst von einer älteren Besucherin angesprochen, ob ich nicht einmal etwas „Leichtes und Fröhliches“ spielen könne. Zum Auszug hatte ich den dritten, gigue-artigen Teil von François Couperins „Offertoire“ aus der Messe à l’usage des paroisses gespielt, für mich eine sehr heitere und fröhliche Musik, was aber offenbar nicht von allen Hörerinnen und Hörern so empfunden wird.
Bei Joachim Rollers Festlichen Choralconcerti handelt es sich um an barocke Vorbilder angelehnte Concerto-Formen, welche Kirchenlied-Melodien fantasievoll meist figurativ-ornamental umspielen. Gleich das anfängliche „O Jesu Christe, wahres Licht“ in Kombination mit der Melodie von „Die güldene Sonne“ kann man, nimmt man die Metronomangabe von Viertel = 162 ernst, geradezu als virtuos bezeichnen. Immer wieder wird der durchweg motorische Duktus mit kleinen Überraschungen aufgelockert, wie zum Beispiel an der Stelle Takte 55–57 „breiter werdend“ im Concerto über „Morgenglanz der Ewigkeit“.
Bei entsprechender Ausführung mit lockerem Hand- und Fußgelenk für eine gute Non legato-Artikulation wird man sich der Wirkung dieser meist quirligen Stücke nicht entziehen können. Der Autor regt im Vorwort diverse Einsatz-Möglichkeiten in der liturgischen Praxis an. Dabei empfiehlt er auch Kürzungen, wenn auch nicht so explizit bezeichnet wie bei den Festpräludien von Christiane Michel-Ostertun.
Wie schön, dass der Strube-Verlag so vielen unterschiedlichen musikalischen Ausdrucksformen Raum gibt. Orgelmusik ist eben inzwischen auch, wohl zum Glück, ein Abbild unserer Gesellschaft: Vielfältig!
Christian von Blohn