Ruttkamp, Timo (*1980)

Farbenblind (2011) für Orgel

Verlag/Label: edition gravis, eg 2223
erschienen in: organ 2016/02 , Seite 62

Das knapp zwanzigminütige Orgelstück ist dem Rezensenten gewidmet und wurde 2011 in der KunstKul­turkirche Allerheiligen in Frankfurt am Main uraufgeführt. Die Orgel mit elektrischer Spiel- und Regis­tertraktur wurde mit einer Winddrossel ausgestattet, die den Orgelwind stufenlos regulierbar macht. Dies ist in der Partitur zwar nicht explizit vorgeschrieben, erzeugt aber am Anfang der Komposition einen besonderen Reiz.
Hier begegnen sich verschiedene 4’-Register auf unterschiedlichen Manualen. Drei Manuale sind in den Noten benannt – es wäre aber auch eine Fassung auf zwei Manualen möglich. Rhythmisch ist die Musik in Space-Notation aufgeschrieben. Der Komponist äußerte sich gegenüber dem Rezensenten hierzu: „Normalerweise bin ich kein Fan von freier Space-Notation. Aber beim Komponieren ist mir die Notation mit der Idee zusammen eingefallen. Gerade der Anfang entspricht dem, was ich musikalisch mitteilen möchte.“ Die Überschrift „langsam zögernd, rhythmisch äußerst frei, sehr schwankend“ bezeichnet die Charakteristik, die sich auf Orgeln mit weichen 4’-Regis­tern und Räumen mit langem Nachhall gut entfaltet.
Der Rhythmus der Musik bleibt zwar zu Beginn frei, wird aber durch die Abstände auf dem Papier angedeutet. Im weiteren Verlauf schreibt Ruttkamp den Rhythmus konkret auf, streut jedoch Synkopen und Fermaten ein, welche die strengen Notenwerte auflockern. Eine einstimmige Passage fällt ins Auge, die Klangmodulationen durch Regis­ter­wechsel enthält. Es handelt sich um eine einstimmige Linie, deren Abschnitte ineinander verschaltet zu registrieren sind. Auch hier sind keine konkreten Register explizit vorgeschrieben.
Die Musik ist insgesamt kaleidoskopartig strukturiert. Sie besticht durch ständige Farbwechsel – Rhythmus und Klangfarbe verschmelzen miteinander und reizen durch ihr Wechselspiel. Sehr ähn­liche Figuren werden rhythmisch leicht verändert und gegenläufig gespielt, so dass diese Stellen eine Art „Verwaschung“ darstellen. Den Höhepunkt bildet der Schluss, der einen liegenden Akkord in rhythmisch notierten Registeränderungen enthält. Die Musik löst sich in pure Klangfarbe auf. Die im Werktitel enthaltene tautologische Paradoxie „farbenblind“ stört den Komponis­ten nicht: „Eine farbenreiche Orgel kann das wunderbar ausschöpfen, so dass man quasi den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.“ Für den Komponisten würden die (allzu) vielen Farben quasi eine Art „Farbblindheit“ beim Hören evozieren.

Dominik Susteck