Mendelssohn Bartholdy, Felix

Fantasia und Fuge g-Moll für Orgel

revidiert und vollendet von Norbert Linke

Verlag/Label: Verlag Neue Musik Berlin NM 1617
erschienen in: organ 2013/03 , Seite 60

Felix Mendelssohn Bartholdy, der seit der Schmähung im „Dritten Reich“ bis heute im Konzertleben noch nicht wieder adäquat repräsentiert bzw. teilweise als Vertreter einer vermeintlich allzu gefälligen Schreibweise in seiner Bedeutung verkannt bleibt, fasziniert mit seinen schon in jugendlichen Jahren vollendeten kompositorischen Geniestreichen wie der Ouvertüre zum  Sommernachtstraum (1826). Zu seinen frühen Werken gehört auch die 1823 komponierte und unvollen­-det gebliebene Fantasie mit Fuge in g-Moll. Der Komponist Norbert Linke (geb. 1933), Träger zahlreicher Kompositionspreise, der unter anderem Schüler von Philipp Jarnach war und zuletzt an der Universität Duisburg lehrte, hat sich schon 1982 daran gemacht, das Werk zu „revidieren“ und zu „vollenden“.
Linkes Revision der Fantasie besteht in diversen Veränderungen wie einer stärkeren „Chromatisierung“ des melodischen Verlaufs wie schon zu Anfang im Pedal in Takt 5, vollgriffigeren Akkorden, teilweise Änderung der Stimmführung und der akkordischen Rhythmik sowie einer Glättung der rezitativischen Stellen des Originals. Man kann Linkes Bearbeitung der Fantasie ob der einfacheren Faktur leichter verstehen; das Stück wirkt so als durchgängiges Ganzes. Bei Mendelssohn sind die einzelnen Abschnitte hingegen deutlicher voneinander getrennt, weshalb sich der Interpret bezüglich der Übergänge mehr Gedanken machen muss.
Man könnte die Mendelssohn-Fantasie ohne Not so spielen, wie sie da steht. Allerdings bricht die Fuge bereits nach 17 Takten ab. Die im Vorwort der Linke’schen Ausgabe geäußerte Behauptung, Mendelssohn hätte wegen der rhythmischen Gleichförmigkeit der chromatischen Abwärtsbewegung das Stück nicht vollendet, erscheint  allerdings übertrieben. Mendelssohn hat das Thema (allerdings als eine Art Doppelfuge) im gleichen Jahr im ersten Satz seiner g-Moll-Streichersinfonie mit einer Länge von etwa 180 (!) Takten wieder verwandt. Die Wirkung dieses Stücks ist, auch durch die Instrumentierung, so eklatant, dass er wahrscheinlich hinterher an einer Fortschreibung der Orgelfuge das Interesse verlor.
Linke beginnt das Thema wie Mendelssohn, führt es aber rhythmisch differenzierter und melodisch anders weiter, tauscht den dritten und vierten Themeneinsatz hinsichtlich der Funktionen aus und komponiert so eigentlich weniger eine „Vollendung“ als ein ganz neues Stück, das von seiner Tonsprache her eher einer expressiven Spät- als der Mendelssohn’schen Hochromantik verhaftet ist. Insofern passen Linkes Veränderungen der Fantasie auch wieder zur neu komponierten Fuge. Diese ist geschickt und in sich stimmig geführt, und wenn der Komponist im Vorwort in einem Brief an Joachim Dorfmüller zitiert wird mit den Worten „Mendelssohn hätte es sicher besser gemacht“, dann kann man darauf antworten: Vielleicht, sti­listisch aber bestimmt anders!

Christian von Blohn