Schmitt, Georg (1821–1900)

Fantaisie élégante Offertoire für Orgel (Edition Dohr 14207)

+ Zwei kontrapunktische Orgelwerke: Prélude fugué – Sortie / Fantaisie fugué op. 47 (Edition Dohr 14205) | Six Études caractéristiques pour le Grand Orgue (Edition Dohr 14206)

erschienen in: organ 2016/04 , Seite 60

Auch auf dem Feld der französischen Orgelsinfonik des 19. Jahrhunderts – in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten ziemlich intensiv ausgelotet und dokumentiert durch zahlreiche Aufnahmen und Neuausgaben bzw. Reprints von Werken diverser bekannter und entlegenerer KomponistInnen – lässt sich noch immer Interessantes und Neues entdecken. So hat sich der musikologisch außerordentlich beschlagene Guido Johannes Joerg als Herausgeber in Zusammenarbeit mit dem Kölner Verlag Dohr dem Orgelwerk des aus Trier stammenden Georg Schmitt (1821–1900) zugewandt, der ebendort 1835–42 als Domorganist wirkte.
Schmitts Vater war bereits als Domorganist und Gastwirt (!) in Trier tätig gewesen. Vielleicht liegt auch in Letzterem die Ursache, dass sein Sohn unter anderem ein Mosellied (Im weiten deutschen Lande) schrieb. Nachdem der Vater 1832 verstarb, vertrat Georg diesen am Dom bereits als Elfjähriger und trat nach einem zweijährigen Studienaufenthalt im westfälischen Müns­ter die Stelle offiziell mit 14 (sic!) Jahren an. Allerdings ging er, nachdem er der Anstellung – angeblich wegen Unzuverlässigkeit – verlustig ging, 1845 nach Paris, wo er wie viele talentierte deutschstämmige Musiker reüssierte.
An der Seine versuchte sich Schmitt wie sein berühmter deutscher Kollege Jacques Offenbach im gleichen Genre und schrieb mehrere Operetten. Zu seinem umfangreichen Œuvre verschiedenster Gattungen zählt aber auch ein beachtlicher Teil Orgelmusik. Er veröffentlichte zudem mit dem Nouveau Manuel complet de l’Organiste practicien ein Standardwerk zur Orgel­geschichte. Ebenso fand sein vierbändiges Kompendium Le Musée de l’Organiste mit hundert Stücken aus eigener Feder sowie anderer Komponisten, darunter César Franck und Camille Saint-Saëns, weite Verbreitung. In Schmitts Pariser Zeit fällt auch eine Tournee nach Nordamerika, was damals noch weitaus aufwändiger und anstrengender zu realisieren war als später etwa zur Zeit von Marcel Dupré nach dem Ers­ten Weltkrieg. Von 1850 bis 1863 schließlich war Schmitt Titularorganist an der Kirche St. Sulpice im Stadtteil Saint-Germain-des-Prés. Dort initiierte er gemeinsam mit Aristide Cavaillé-Coll den monumentalen Umbau der dortigen Cliquot-Orgel zum hundertregistrigen symphonischen Großinstrument.
Ironie des Schicksals war es, dass Georg Schmitts Spiel in den Ohren vieler Zeitgenossen schlussendlich als zu klassisch-kontrapunktisch („deutsch“?) beurteilt wurde, zu wenig auf süffige „opernhafte“ Effekte aus, wie in der post-revolutionären Ära in Paris weit verbreitet. Also wurde Schmitt 1863 durch Louis James Alfred Lefébure-Wély (geradezu ein Synonym für gefühlige Pas­toral- und dramatische Gewitterszenen auf der Orgel) vermutlich nicht ganz freiwillig und mit Zutun des einflussreichen Cavaillé-Coll er­setzt, der sich von Lefébure-Wely zu Recht mehr „Wirkung“ (Werbung!) für seine Instrumente versprach. Da­mit ereilte Schmitt ein ähnliches Schicksal wie den Bach-Protago­nis­ten Ale­xandre-Pierre-Fran­çois Boëly, der einige Jahre zuvor in der Pariser Pfarrkirche Saint-Germain l’Auxer­rois dem Vorwurf, „zu seriös“ zu spielen, im Amt weichen musste. Schmitt seinerseits tat in anderen Pariser Kirchen weiter seinen Orgeldienst, zuletzt in St-Joseph-des-Allemands (heute: St-Joseph-Artisan, 10e Arr.). Sein Grab findet sich auf dem Pariser Prominentenfriedhof Père Lachaise.
Zwar reichen Schmitts Orgelwerke qualitätsmäßig kaum an die Meisterwerke seiner berühm­­teren französischen Zeitgenossen (Franck, Widor, Vierne etc.) heran, trotzdem ist seine Musik angenehm zu hören und handwerklich stets solide gearbeitet. Die Fantaisie élégante macht ihrem Namen (und ihrem Schöpfer) alle Ehre: ein wirklich schön gemachtes, etwa fünfminütiges Kabinettstück, das sicher nicht nur, wie angegeben, zum „Offertoire“ erklingen kann.
Auch das Prélude fugué ist gefällig, mit einem interessanten Thema. Teilweise erinnert die Tonsprache ein bisschen an den frühen Charles-Marie Widor – vielleicht müsste man retrospektiv korrekter sagen: Der frühe Widor hat noch Anklänge auch an Georg Schmitt. Mitunter ist, wie bei der Fantaisie fugué, der Pedalpart von hohem Anspruch (deutsche Tradition!) und wird nicht wie bei zahlreichen von Schmitts Zeitgenossen (u. a. Lefébure-Wely) stiefmütterlich behandelt. Auch da­rin kommt Schmitt Widor nahe, der den Pedalgebrauch, auch im Zu­­sammenhang mit seiner Pflege des Bach-Spiels, aus der Lemmens-Tradition heraus später didaktisch noch mehr systematisiert hat.
Die Six Études caractéristiques sind von unterschiedlicher musikalischer Faktur und Schwierigkeitsgrad, teilweise auch manualiter, und können ebenfalls vielfältige Verwendung finden. Insgesamt kommen Verlag und Herausgeber das Verdienst zu, eine für die damalige Pariser Musikszene wichtige und prägende Gestalt mit einer spannenden Vita unter rein praktischer Prämisse wieder ans Tageslicht gebracht zu haben.

Christian von Blohn