Michael Heinemann / Bernhard Hentrich

Erfahrungen mit Bach

Ein Dresdner Bach-Buch

Verlag/Label: Dohr, Köln 2020, 206 Seiten, 29,80 Euro
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2020/04 , Seite 58

Dresden war nie eine Bach-Stadt und nahm in der Bach-Überlieferung des 18. Jahrhunderts bis hin zur ersten Phase der Bach-Renaissance keinen prominenten Platz ein; dies konstatieren die Herausgeber Michael Heinemann und Bernhard Hentrich in der Einleitung ihres Symposiumberichts. Zwar hatte Johann Sebastian Bach seit seiner Weimarer Anstellung immer mit einem Engagement am Dresdener Hof geliebäugelt, doch letztlich hat es nur zu einigen wenigen Konzerten an den Silbermann-Orgeln der Dresdener Hofkirchen gereicht. Erst im 19. Jahrhundert hielten Bachs Oratorien Einzug in die Dresdener Kirchenmusik. Die Aufführungen Bachscher Kompositionen mit hochqualifizierten Dresdener Musikern erlangten seitdem Weltruhm. Das änderte sich auch nach der Zerstörung der Dresdener Altstadt im Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen schwierigen politischen Verhältnissen nicht. Eine Tagung gab 2016 Musikern und Musikwissenschaftlern aus Dresden Gelegenheit, ihr Verhältnis zum Werk Bachs darzustellen.
Michael Heinemann, Professor für Musikwissenschaft in Dresden, geht zunächst den Gründen von Bachs Gesuch um den Titel als „Hof-Compositeur“ nach. In einem weiteren Beitrag vergleicht er die Kompositionstechnik von Orgel- und Clavierfugen des Frauenkirchenorganisten und späteren Kreuzkantors Gottfried August Homilius mit entsprechenden Kompositionen von Johann Sebastian und Wilhelm Friedemann Bach sowie dem Bach-Schüler Johann Ludwig Krebs. Homilius selbst war wohl kein direkter Schüler J. S. Bachs, hatte aber bei dem Bach-Schüler Johann Schneider, zuletzt Organist an der Leip­ziger Nikolaikirche, gelernt. Wenn Heinemann die „kleine“ e-Moll-Fuge BWV 555 als Komposition von Johann Ludwig Krebs ausgibt und daran die Kompositionsweise von Bachs Lieblingsschüler festmacht, geht er aber wohl von falschen Prämissen aus, denn der Verfasser der Acht kleinen Präludien und Fugen ist bisher noch nicht einmal eingekreist.
Es folgen Aufsätze zur Bach-Rezeption von Carlos Lorenzo Fernandez und zur Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion (M. Heinemann), dann ein Bericht des früheren Kruzianers Heinrich Magirius über sein Erleben der Matthäuspassion bei einer Aufführung 1946. Der Zinkenist und Musikwissenschaftler Holger Eichhorn gibt seine Eindrücke von der Begegnung mit historischer Aufführungspraxis Bachscher Werke (frühe Tonaufnahmen von Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt) wieder. Konrad Klek, Theologe und Universitätsmusikdirektor in Erlangen, schreibt über den „geistlichen Hörer“ und wie dieser auf die von Bach in seinen Kantaten in Töne umgesetzten theologischen Deutungen spontan reagiert. Über den „geistlichen Interpreten“ äußert sich Eberhard Spree, Kontrabassist im Leipziger Gewandhausorchester. Dieses Orchester ist wie der Thomanerchor eine städtische Einrichtung; ihre Mitglieder müssen nicht einer christlichen Kirche angehören.
Der Dresdener Gesangsprofessor Olaf Bär begann seine Laufbahn als Knabensolist im Kreuzchor und erinnert sich an seine Begegnungen mit Bachs Passionen und Oratorien unter der Leitung von Kreuzkantor Rudolf Mauersberger und Martin Flämig sowie an seine Zusammenarbeit mit Peter Schreier, die für seine Karriere maßgeblich wurde. Auch der heutige Professor für Alte Musik Wolfgang Hent­rich wurde durch Peter Schreiers Bach-Aufführungen geprägt. Als Geiger spielte er später auch unter Nikolaus Harnoncourt, Reinhard Goebel und Ton Koopman. Hentrich gibt hier auch eigene Gedanken zur Interpretation Bachscher Kompositionen wieder. Die Ensembles von Professor Christoph Rademann, inzwischen Leiter der Bach-Akademie Stuttgart, musizieren inzwischen auf höchstem Niveau, wobei sie auf historisch informierter Aufführungspraxis basieren. Ein erses Vorbild war für ihn das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philipp Herwege. Stephan Lennig, Rektor der Dresdener Hochschule für Kirchenmusik, wurde unbelastet von allzu schwer drückenden Traditionen ausgebildet und konnte sich der Musik Bachs ohne ideologische Vereinnahmung annähern.
Der Instrumentalpädagoge Wolfgang Lessing setzt sich mit verschiedenen Aufnahmen der Bachschen Cellosuiten auseinander. Die Gesangsprofessorin Elisabeth Holmer berichtet, welch starken persönlichen Einfluss es auf ihr Leben hatte, Bachs Musik zu als Ausübende zu gestalten. Der Kompositionsprofessor Mark Andre macht sich tiefgründige Gedanken über die Bachsche Kompositionsweise. Speziell für die Leserschaft von organ anregend sind zwei Beiträge: „Bachs Orgelfugen als spirituelle Musik“ von Dominik Sackmann und „Annäherung an Bachs Orgelwerke“ von dem zeitweiligen Kreuzorga­nis­ten Martin Schmeding, der fortgeschrittenen Orgelspielern konkrete Lösungsmöglichkeiten beim Erarbeiten Bachscher Werke aufzeigt.
Jeder Leser wird diesen sehr gelungenen Band mit Gewinn studieren.

Rüdiger Wilhelm