entgrenzt unbounded

Werke von Annette Schlünz, Dániel Péter Biró, Roland Breitenfeld, Gerald Eckert und Bernfried Pröve

Verlag/Label: edition zeitklang ez-37035
erschienen in: organ 2011/02 , Seite 57

4 Pfeifen

Nachdem die italienischen Futuris­ten Geräusche salonfähig gemacht und Edgard Varèse das Schlagzeug emanzipiert hatte, war es nur eine Frage der Zeit, wann sich die starre, sakral anmutende Orgel und die bewegliche, magisch-atavistische Batteria im kirchlichen Raum auf gemeinsame Abenteuer einlassen würden. Der 1962 in Kiel geborene Schlagzeuger Olaf Tzschoppe, Mitglied der Percussions de Strasbourg und anderer Eliten der schlagenden Zunft, studierte in Freiburg, wo der ungarische Orgelvirtuose Zsigmond Szathmáry seit 1978 lehrt. Nach seinen frühen Hamburger Jahren hatte dieser am Dom zu Bremen die Orgel geschlagen – eben dort, wo Tzschoppe seit 2005 als Professor wirkt. Schlagende Argumente also für einen Abtausch mit Händen und Füßen.
Was Orgelpfeifen und Schlagzeug­sippen im Hallraum des Bremer Doms St. Petri miteinander treiben, klingt wie ein Märchen aus alten Zeiten: ein seltsam anziehendes Gesamtkunstwerk, das – bei aller Verschiedenheit der Stücke und ihrer Autoren – wundersame Landschaften der Seele durchmisst, die dem Motto der CD auf vielfältige Weise nahe kommen: entgrenzt. Ein Stichwort, das ein, wenn nicht das Wesensmerkmal der Romantik benennt. Traum, Ahnung, Sehnsucht, Magisches und Gespenstisches kommen hier ebenso zur Sprache wie Entrü­ckendes: ein Sich-Lösen in Tönen. „Dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein geben“, diesem Postulat des Novalis entsprechen die begnadeten Musiker auf ihrem so unterschiedlichen „Klanggerät“ mit überbordender Fantasie, ohne ins Uferlose zu ge­raten.
Um den Orgelklang ein wenig zu verflüssigen, verlangt Gerald Eckert für seine zehn knappen Inschriften viel Registerwechsel und „Jalousien auf und zu“. Auch liebt er harsche Kontraste. Schwere Tontrauben der Orgel weichen luftigem Rankenwerk. Im Ganzen wirkt der Zyklus eher bedächtig. Wie die nachgerade stillstehenden Piutim (Hymnen) des in Kanada lehrenden Dániel Péter Biró, die gedanklich um Paul Celans Todesfuge kreisen. In ihrer Studie verstummen thematisiert Annette Schlünz eher die Beziehungslosigkeit beider Klang­sphä­ren, wobei das Schlagzeug die Orgel am Ende buchstäblich mattsetzt. Bernfried Pröve und Roland Breitenfeld suchen das ohnehin reiche „Farb­aufkommen“ der Orgel und des Schlagwerks mittels Elektronik zu bereichern. Pröves Pulsation VIII für Orgel, Schlagzeug und Tape (2006/07) besticht durch originelle Einfälle: den Einsatz metallener Klangplatten im ersten Satz „Ri­tual“, hauchzarte Registrierung im zweiten „konzentrische Ellipsen“ und finales Ersterben des Orgel im dritten „un poco eccentrico“ – Reminiszenz an Ligetis Volumina.
In Breitenfelds Annunciazione (2005) vermittelt die elektronische Klangschicht zwischen den Sphären der Orgel und der Perkussion, die mit Thai-Gongs und hängenden Metallstäben neue Töne anschlägt. Der Werktitel bezieht sich auf das gleichnamige Gemälde von Leonardo da Vinci, dessen Farbensprache und Proportionen der Komponist aufnimmt. Die beiden Melodiezitate Da Vincis wirken wie Guckfenster in eine paradiesische Vorzeit.
Lutz Lesle