Elements of Bach
Johannes Krahl an der Eule-Orgel (1910) im Dom St. Petri zu Bautzen
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„Die übermenschliche Gewalt der Phantasie verlangt fast durchweg Anwendung der äußersten dynamischen Kraft, bei größter Dezenz und Schlichtheit im Gebrauch der koloristischen Mittel.“ So beginnt Karl Straubes erste Fußnote zur g-Moll-Fantasie BWV 542 in der von ihm bearbeiteten Ausgabe des zweiten Peters-Bandes der Orgelwerke Bachs von 1913. Zusammen mit den genauen Angaben zu Manualverteilung, Dynamik, Artikulation und Tempogestaltung ergeben diese Anmerkungen einen Essay zur Interpretation der Fantasie. Ist er ein Protokoll von Straubes eigener Spielweise, interpretatorische Rundumbetreuung des Spielers oder dessen Bevormundung?
Johannes Krahl ist mit seinem Album „Elements of Bach“ nicht der erste, der Straubes Ausgabe „zu neuem Leben“ erwecken will (Booklettext, D/E). Krahl entwirft mit seinem Programm ein Gesamtbild, in dessen Zentrum Straube und Max Reger stehen. Nach Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542 erklingen Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903 in Regers Orgeleinrichtung und Liszts „Weinen, Klagen“ in Straubes Bearbeitung, am Ende stehen Regers Fantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46. Eine wichtige Rolle spielt das Instrument, die Eule-Orgel des Bautzener Doms von 1910 (III/62), 2017/18 von der Erbauerfirma restauriert. Ihr Klang ist verblüffend weich, der Verschmelzungsgrad der Grundstimmen ebenso erstaunlich wie ihre dennoch charakteristische Intonation. Die 16’- und 32’-Stimmen bringen watteartige Fülle, die Rohrwerke dezenten Zuwachs an Präsenz und Zeichnung; gegenüber den Mixturen treten sie zurück. Das Klangbild, das Tonmeister Manfred Schumacher vom Instrument zeichnet, wirkt überraschend, aber glaubwürdig. Atemberaubend: der Kontrast zwischen dem Ende der B-A-C-H-Fantasie und dem kaum hörbaren Beginn der Fuge.
Krahl geht mit der Pneumatik der Taschenladen-Orgel souverän um, ihm gelingt jenes dichte Legato und intensive Non-Legato, das die Grundstimmenmasse ins Fließen und Rollschwellerdynamik zu guter Wirkung bringt. Gleichzeitig wirken die von Straube geforderten Akzente und Staccato-Angaben stark abgefedert. Dabei setzt Krahl auch komplexe Straube-Vorschläge um, etwa die polyphonen Zwischenspiele der g-Moll-Fantasie als Quartette auf drei Manualen und Pedal. Alle Tempi wirken sehr breit, dabei metrisch konsequent und angespannt, die oft verlangten Accellerandi und Allargandi organisch.
Es bleibt der Eindruck, dass Krahl sich, mindestens ebenso stark wie von Straubes und Regers Forderungen, vom Instrument leiten lässt. Er nimmt Straubes Hinweise auf, versucht aber nicht, sich hinter ihrem Detailreichtum zu verstecken. Lässt man sich beim Hören auf die Klangwelt der Orgel und auf die großzügigen Tempi ein, so wirken Krahls Interpretationen wie aus einem Guss. Weder herbe Sauer-Tutti noch hitzige Expressivität darf man hier erwarten, dafür aber, bis in die Abgründe von Liszt-Straubes „Weinen, Klagen“-Variationen, eine tiefernste Klassizität.
Friedrich Sprondel