Ein feste Burg ist unser Gott

Romantische Choralbear­beitungen für Orgel solo, Band II: Sechs größere Fantasien

Verlag/Label: Dr. Butz Verlag 2788
erschienen in: organ 2017/02 , Seite 62

Band I der Romantischen Choralbearbeitungen über „Ein feste Burg ist unser Gott“ scheint ein Treffpunkt vieler Komponisten zu sein, deren Geburtsjahr fast ausschließlich im 19. Jahrhundert liegt – Komponis­ten, von denen ein Großteil vom Herausgeber Andreas Rockstroh aus der staubigen Gruft mancher Bibliotheken wiedererweckt wurde. Tatsächlich findet man gut die Hälfte der Tonsetzer nur bei pfadfinderischem Suchen nach verstaubten Exemplaren hinter manch ehrwürdig patiniertem Orgelgehäuse. Zu den eher bekannten Komponisten der Auswahl zählen etwa Albert Becker, Otto Dienel, Michael Gotthart Fischer, Gustav Flügel, Karl Hoyer, Carl Piutti oder Johann Christian Heinrich Rinck, deren Choralvorspiele es auch in neuere Bände geschafft haben. Selbst Max Reger (mit einem Beispiel aus op. 79b) findet sich darunter. Wer aber kennt etwa schon Johannes Weyh­mann, Robert Frenzel oder Emil Dercks – stellvertretend genannt für weitere Musiker?
Die Sammlung in Band I wird sicher ihre Abnehmer finden. Aber die darin befindlichen Vorspiele, da­von manche sehr kurz (Weyhmanns Beitrag schafft es auf gerade einmal neun Takte), sind durchweg (mit wenigen Ausnahmen) von gleicher Art, als hätten sich ihre Schöpfer kartellartig abgesprochen. Weitgehend herrscht das beliebte Fugato (Pachelbel-Stil) vor, weitgehend ist die plane Fassung des Chorals beliebt, wohingegen der kämpferisch-reformatorische, der mitreißende Auftakt des originalen Chorals nur wenige inspirierte. War die Zeit wirklich so gemütlich oder gar so verschlafen …? Die meisten Abschlüsse beglücken mit 6|4–5|3–4|2-Durchgängen, um lammfromm auf der Tonika zu landen. Dazu treten zuhauf schale Sequenzen und aneinandergereihte Quintfallsequenzen und viel organo pleno, als symbolisierte Lautstärke lutherische Tatkraft. Natürlich wird man diese Vorspiele nicht unbedingt ganz oder auszugsweise hintereinander auftischen, doch die Übereinstimmungen sind augen- bzw. ohrenfällig.
Unter den etwas muntereren Exemplaren fallen auf: Michael Gotthart Fischer – hier bringt die Punktierungsrhythmik etwas Schwung; Gustav Flügel – und hier die Trioleneinschübe; Johann Georg Herzog – er benutzt für das nahezu unvermeidliche Fugato die rhythmische Fassung; doch ist hier die Verteilung auf drei Seiten blättertechnisch untauglich, das Stück hätte auf zwei Seiten Platz gefunden, wie überhaupt das Layout mit seinen vielen Leerstellen in beiden Bänden überdenkenswert ist …; Alfred Grundmann – fünf Seiten lang, halsbrecherische Pedaltonleitern; Reger – wurde sehr großzügig auf vier Seiten mit je drei Akkoladen gestreckt, die letzte Seite bleibt (wie häufig in diesem Band) teilweise weiß; Emil Weidenhagen – endlich ein wenig harmonischer Einfallsreichtum; Camillo Schumann – viele Sechzehntelpassagen suggerieren Temperament, doch die finalen Takte (grandioso) erlahmen eher; Albert Becker – seiner Länge (neun Seiten mit je vier Akkoladen) wegen gehört das Stück eher in Band II. Einige Vorspiele sind manualiter; viele hantieren mit heftigen Oktavparallelen, den damaligen Orgeln geschuldet; die meisten stehen in C-Dur, dem E(K)G angeglichen. Warum manche in D stehen, bleibt verborgen. Kurzbiografien erhellen die Viten mancher nahezu unbekannter Komponisten.
 
Band II bietet sozusagen die Fortsetzung von Albert Beckers „stretched composition“ aus Band I. Die Komponisten hier hat manche Organistin (natürlich auch mancher Organist) schon eher unter den Fingern gehabt: Max Gulbins – „großer“ Entwurf, heftige Terz- und Sext­akkordparallelen, technisch höchst anspruchsvoll, dann bricht wieder eine Fuge aus, bzw. was man so Fuge nennt; WilhelmRudnick – Maestoso-Beginn mit entsprechender Vollstimmigkeit, dann sich türmende „Reger“-Akkordik; ein Andante im Dreiertakt („wechselnde Registrierung und evtl. Gebrauch des Schwellers sehr empfohlen“) bringt Entspannung, eher Erschlaffung; das Finale dräut mit vollen Griffen und vollendet eine Quasi-Symphonie; Heinrich Wettstein – hier wird es wirklich lustig; die feste Burg wird mit dem Händel’­schen Halleluja kurzgeschlossen, alte Bekannte treffen sich; der Gedanke ist reizvoll, die Ausführung mit ihrem phlegmatischen Nebeneinander der Themen reizlos; Bernhard Zorn – harmonische Überraschung, es beginnt in f-Moll mit Bach abgelauschten Motiven, Zorn tobt sich seitenlang darin aus und gerät plötzlich nach C-Dur, „große Kiste“ mit dem (natürlich planen) Choral, dick aufgetragen, Rückkehr nach f-Moll, viel schwarze Noten; Hans Fährmann – auch hier „feierlich“ aufgeblähte Akkorde, die unvermeidliche Fuge, und das alles auf satte 19 Seiten verteilt, da wird die feste Burg noch dreimal ummauert; Bruno Stein – Praeludium und Fuge, also Akkorde, aufgebrochene Dreiklangsfigurationen, die Fuge mit viel Sechzehnteln und kühnen Pedalsoli.
Fazit: in kleinen Dosen erträglich; dem einen oder der anderen TastenbezwingerIn wird das eine oder andere Stück gefallen. Oft aber steht der hohe technische Aufwand in keinem guten Verhältnis zum Er­gebnis. Als exemplarisches Kompendium des Umgangs der Romantik (im weitesten Sinne) mit Luthers exemplarischen Reformationschoral eher eine spekulativ-begriffliche denn praktikable Sammlung.

Klaus Uwe Ludwig