Bach, Johann Sebastian

Eigene Bearbeitungen, Band 2

hg. von Paul Heuser

Verlag/Label: Edition Merseburger, EM 1887 (2010)
erschienen in: organ 2010/03 , Seite 60

Bach und immer wieder Bach, und noch immer kein Ende …!? Schier unüberschaubar gestaltet sich mittlerweile der „Jahrmarkt der Bachischen Möglichkeiten“: Von Kritischen Urtextausgaben und bereits wieder revidierten Urtextausgaben über Editionen echter oder vermeintlicher Incerta bis hin zu zahllosen Arrangements und Bearbeitungen, entweder von Bach erstellt, von Komponisten der Romantik, Nach­romantik oder dem modernen He­rausgeber selbst. Einen gediegenen Überblick über die Vielzahl all dieser Sammel- und Einzelpublikationen zu behalten, ist schier unmöglich. Die Materialfülle spiegelt dabei das Problem von Editionen Bach’scher Musik wieder: Ein konsistentes, in sich geschlossenes Bild vom Umfang der Bach’schen Werke vermögen all diese Editionen leider auch nicht liefern. Vielleicht wird sich die Situation grundlegend ändern, wenn die revidierte Neufassung der Neuen Bach-Ausgabe demnächst in Angriff genommen wird, in der nicht nur spektakuläre Funde wie die kürzlich entdeckte Choralfantasie aufgenommen werden, sondern auch zahlreiche Varianten, die nur verstreut in einzelnen Editionen zu finden sind (z. B. die Frühfassung der Toccata in F für Orgel, herausgegeben von Siegbert Rampe).
Zu diesen für jeden Bach-Freund interessanten Variantenausgaben zählt auch der vorliegende, bei Merseburger erschienene und von Paul Heuser herausgegebene zweite Band der Bach-Edition Eigene Berabeitungen. Dort verzeichnet: Bachs Choralvorspiel „Nun komm der Heiden Heiland“ BWV 606b, eine Variante aus den Achtzehn Cho­rälen (Leip­ziger Choräle) mit der überraschenden, selten anzutreffenden 2’-Re­gistrierung im Pedal. Die Varianten im Manualteil sind da­gegen eher marginal und weniger „oh­renfällig“ für den „normalen“ Zuhörer. Das Preludio e Fuge super B-A-C-H BWV 898 findet sich in einer Orgelfassung. Vermutlich entstand dieses Werk recht früh als Klavierkomposition – wie der He­rausgeber vermutet. Für die Transkription wurde die Bass-Stimme ins Pedal verlegt und im Preludio wurden einige Stimmen „aufgefüllt“, wobei in Takt 4 in der linken Hand (unterste Stimme) anstatt es konsequenterweise ein f stehen sollte. Der He­rausgeber meinte nach einer nicht näher erläuterten „Praxis mitteldeutsche Tradition“ verfahren zu müssen, in dem er zwischen dem Preludio und der Fuga als Zwischensatz ein Andante in g-Moll (BWV 969) setzte. Dabei scheint er zu übersehen, dass Bach selbst nach einigen Versuchen mit dreiteiligen Formen (z. B. Toccata in C BWV 564), diese nicht weiterverfolgt hat wie dies auch das Spätwerk belegt. Die anschließende Fuga wurde wegen ihres fragmentarischen Zustands vom Herausgeber mit zwölf Takten „neu gefasst“. Leider teilt der Verfasser nicht mit, was genau er getan hat bzw. wo genau die Ergänzung anfängt.
Eine Schwäche dieser Edition ist, dass der Herausgeber manches behauptend in den Raum stellt, aber selten hinreichend belegt; er komponiert selbst hinzu („Füllstimmen“), zeigt editorisch jedoch nicht einwandfrei nachvollziehbar an, was original und was eigene Zutat ist. Es fehlt zudem der im Falle Bachs unerlässliche Kritische Bericht, ein nachvollziehbarer Nachweis für die Echtheit der Werke (überhaupt eines der großen Probleme der Bach-Forschung). Daher bleibt diese Ausgabe für den philologisch beschlagenen Bach-Kenner von begrenztem Interesse.
Dem rein praktisch denkenden Spieler, der sich um all die komplexen Fragen der Überlieferung, Abschriften und Echtheitsfragen wenig schert, mag der reine Notentext ausreichen. Insofern sei diese Ausgabe durchaus empfohlen, denn sie enthält eine Reihe interessanter und lohnender Werke wie die Transkription eines Konzerts für Oboe und Orchester von Alessandro Marcello BWV 974 oder eine bis dato unbekannte Gigue BWV deest, die im Anhang mitgeteilt wird. Im Supplement befindet sich auch ein Siciliano in g-Moll aus der Flötensonate BWV 1031/2 in einer Fassung des Thomaskantors Moritz Hauptmann – ein durchaus stimmungsvolles Stück, das Eingang ins Repertoire finden könnte. Daneben wurde eine Partita über den Choral „Jesu meine Freude“ BWV 324ff aufgenommen. Die Ausgabe enthält neben dem Faksimiledruck des Chorals „Nun komm der Heiden Heiland“ aus dem Orgelbüchlein (BWV 606b) ein zweisprachiges Vorwort (D/E).
Irritierenderweise – und nicht unbedingt überzeugend – wurden die Seiten gelocht, so dass beim Blättern leicht unnötige Geräusche entstehen. Cui bono? Diese Frage kann einzig wohl der Verlag beantworten. Etliche Stellen könnten bezüglich der Lesbarkeit des Texts an Deutlichkeit durchaus gewinnen, wenn der Herausgeber nicht sklavisch die Maxime umgesetzt hätte, dass Akzidentien nur für den betreffenden Takt gelten. So sind beispielsweise in der Fuge über B-A-C-H die chromatisch abwärts füh­renden Schritte im Pedal (Takte 72 ff.) optisch eher unklar, auch wenn am Ende unstrittig sein dürfte, was gemeint ist.
In dieser Edition verteilen sich Licht und Schatten gleichmäßig. Verdienstvoll ist die Publikation eher unbekannter Werke bzw. unbekannter Fassungen bekannter Werke. Dem heutigen verantwortungsvollen Spieler genügt indes nicht mehr der bloße „spielbare“ Notentext; Entscheidungen des He­rausgebers müssen klar nachvollziehbar sein und auch in einem gesonderten Bericht angezeigt und begründet werden. Hier besteht für den Verlag noch akuter Verbesserungsbedarf.

Volker Ellenberger