Adolph, Wolfram

Editorial 3/2007

erschienen in: organ 2007/03 , Seite 1

Liebe Leserin, lieber Leser,

das ganze Jahr lang ertönt ein unablässiges konzertantes und gottesdienstliches Geläut zu Ehren des „Wohl˜Edlen / GroߘAchtbaren und Weltberühmten Hr. Diederich Buxtehude / Unvergleichlicher MUSICUS und COMPONISTE, Wohlverdienter 38.jähriger Organist und Werckmeister der Haupt˜Kirchen zu St. Marien in LUBECK“ (Trauergedicht, 1707). Nach der Beendigung der offiziellen Feierlichkeiten um den Musicus primarius 2007 steht zu befürchten, dass sich im musikalischen Bewusstsein aufs Ganze kaum etwas verändert haben wird. Buxtehude wird auch künftig zu den grandios unterschätzten Komponisten gehören. Zu wenig weiß das emanzipierte Ich heute von den geistigen Fundamenten jener versunkenen Hochkultur, ihrer feinsinnigen Eleganz, ahnt nichts (mehr) von ihren ästhetischen Obsessionen und stilgeschichtlichen Kühnheiten. Unsere epigonale Sicht auf die hanseatische Organistik, von Athanasius Kircher 1650 unter dem Kunstbegriff des „Stylus phantasticus“ zusammengefasst, verfehlt den Nerv der Sache apriorisch und verkennt zumal ihren elitären Anspruch. Buxtehude war der „fantastische Styl“ ein suggestiver Flüsterer, ein potentes Kreativprogramm, aus dem er die beflügelnde Force für seine Toccaten und Präludien las.

Die „Leipziger“ definierten Buxtehude zuletzt als „vorbachischen“ Meister und sahen in seinem Schaffen eine „rudimentäre Vorform“ zu Bach: Buxtehude light – als gut verträgliches „Nahrungsergänzungsmittel“ zur hypergenialen Leipziger Vollwertkost? Seine Orgelwerke dienten jahrzehntelang als opportunes Repertoire für die Kleinorgel, das Vokalwerk als pflegliches Vademecum gymnasialer Schulchorpraxis.

Wie konnte sich unser Buxtehude-Bild überhaupt so weit von den musikgeschichtlichen Tatsachen entfernen? Lübeck war eine Magistrale jener Zeit. In St. Marien vermittelte er sich eine Geisteshaltung, die mehr abverlangte als getreuliches Schlagen der Orgel. Er stand hier in der Funktion eines hansestädtischen „Generalbevollmächtigten“ für Musik, involviert in den intellektuellen Konsens eines betuchten weltstädtischen Gemeinwesens, das nach anspruchsvoller Kunst und musikalischem Luxus gierte. Lübeck – „Königin der Hanse“ – war ein Tor zur Welt, durch das Buxtehude jedoch nur selten hindurchtrat. Die Leute kamen dafür in Scharen zu ihm, um ihn zu „behorchen“ – wie der junge Bach sagte. Neben ihm fanden sich Mattheson, Bruhns, Händel u. a. ein. Und wem die Reise zu weit oder zu beschwerlich war, der entbot seinen respektvollen Gruß aus der Ferne, wie Johann Pachelbel aus Nürnberg mit seinem Buxtehude dedizierten Hexachordum Apollinis. Buxtehude war eine kontinentale Figur, ein „Kunst-Großreeder“, wie Wolfram Goertz in der ZEIT so treffend formulierte: ein Megastar des Barockzeitalters im Norden Europas.

Es werden erhebliche weitere Anstrengungen vonnöten sein, bis man ermessen wird, was es wirklich bedeutete, dass der blutjunge Bach einst zu Fuß zu dem beinahe Siebzigjährigen nach Lübeck reiste. Welchen Eindruck muss dieser Dieterico Buxtehude bei dem jungen Mann hinterlassen haben, der sich am Ende gar nicht mehr von ihm loßreißen mochte? Eine beredte Antwort hierauf gibt noch immer seine Musik, die es im Buxtehude-Jahr 2007 mit geöffneten Sinnen für all ihre mannigfaltigen Schönheiten neu zu entdecken gilt.

Ihr

Wolfram Adolph
Chefredakteur organ