Lemmens, Jacques-Nicolaus

École d’Orgue / Orgel-Schule nach dem gregorianischen Choral. Teil 1 / Teil 2, deutsch – französisch / 12 Morceaux pour orgue (Harmonium), Reprint

Verlag/Label: Schott Music, ED 1319 / ED 1320 / BSS 23248
erschienen in: organ 2011/02 , Seite 58

Gewiss kann mit gutem Recht auch der Belgier Jacques-Nicolaus Lemmens als ein echter „Organistenmacher“ des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden, gehören doch für die europäische Orgelmusikgeschichte so wirkmächtige Komponisten wie Charles-Marie Widor und Alexandre Guilmant zu seinem Schülerkreis. Worauf gründet jedoch die Bedeutung des einflussreichen Brüsseler Reformpädagogen, der bis heute nachwirkend mit seiner Schule und Lehrmethodik Generationen von Organisten geprägt hat? Einblicke gewährt diesbezüglich die nun bei Schott im Reprint herausgegebene zweibändige Originaledition seiner legendären Orgel-Schule von 1862.
Im Vorwort begründet Lemmens sein Unterfangen mit der Notwendigkeit eines solchen Lehrwerks für die damals auf dem gregorianischen Gesang aufgebaute Kirchenmusik in der römisch-katholischen Liturgie. So sind hier die verwendeten cantus firmi ausschließlich gregorianischen Ursprungs. Mit diesem Bestreben nähert sich Lemens den ganz ähnlichen Intentionen des damals hierzulande aufkeimenden Cä­cilianismus.
Ausgehend von einem reinen (absoluten) Legato-Spiel stehen am Anfang des ersten Bandes diesbezügliche Übungen mit stummem Fingerwechsel, in kleine Lehrstück­chen mündend. Lemmens, der sich durch seinen Unterricht bei dem Breslauer Organisten Adolf Hesse in der Bach-Tradition stehend sah, hatte damals mit seiner Systematik und Konsequenz in puncto Finger- und Pedalsatz und mit der von ihm geforderten rhythmischen Klarheit, exaktem Zusammenspiel von Händen und Füßen nebst anderen heute Selbstverständlichem die damals z. B. in Frankreich übliche – weitgehend verwahrloste – Praxis des Orgelspiels regelrecht revolutioniert. Man kann sich aus den Beschreibungen des damaligen Unterrichts, etwa durch Widor, vorstellen, dass zu dieser Zeit die Orgel eher ein Instrument für begabtere Pianisten war, die mehr improvisatorisch in die Tasten griffen, die gespielt haben, „wie es gerade kommt“; Finger- und Fußsätze blieben dabei wie die Phrasierung etc. mehr oder weniger dem Zufall überlassen. An die Fingerübungen schließen sich Sequenz- und Modulationsübungen an sowie kleine, im Gottesdienst wegen der Kürze gut verwendbare Orgelstückchen. So ist diese Schule insgesamt ein Lehrwerk nicht nur in technischer, sondern auch in kompositorischer und improvisatorischer Hinsicht. Nicht von ungefähr fordert Lemmens im Vorwort von den angehenden Organisten nicht nur eine gute Klaviertechnik, sondern auch Kenntnisse in Kontrapunkt und Harmonielehre.
Ist der erste Teil auch für Harmo­nium gedacht, weshalb auf die Thematik des Pedalspiels im Notentext alternativ hingewiesen wird, beschäftigt sich der umfangreichere zweite Teil gleich zu Anfang intensiv mit dem Pedal. Den teils technisch anspruchsvollen Übungen, Pedaltonleitern etc. folgen auch hier wieder Lehrstücke in Trio-Form, Kanon, Fuge, Plenum-Stücke etc., teils mit erheblich höherem Anspruch und breiterer Ausdehnung und stets mit obligatem Pedal. Einige Werke können sicher gut im Konzert erklingen wie zum Beispiel das Scherzo symphonique concertant. Der Band enthält einige bis heute sehr bekannte Stücke wie die häufig gespielte Fanfare. Organisten, die sich der Mühe des sehr anspruchsvollen vollgriffigen Manual- und Doppel-Pedalspiels nicht unterziehen wollen, sei gesagt, dass es von einigen dieser populäreren Werke einfachere Harmonium-Versionen mit Pedal ad libitum gibt (z. B. in den 12 Morceaux für Orgel oder Harmonium.
Vermag uns die Orgel-Schule von Lemmens heute noch etwas zu bringen? Oder handelt es sich hier bei näherer Beschäftigung um einen obsoleten, nur von historischem Interesse begleiteten Anachronismus? Möglicherweise hat die historisch informierte Aufführungspraxis der vergangenen Jahrzehnte dazu geführt, dass das systematische Legatospiel, das für die adäquate Ausführung zahlreicher Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts zwingend erforderlich ist, im Unterricht in ungerechtfertigtem Maße vernachlässigt wird. Einstige Standard-Orgelschulen in der Lemmens’­schen Tradition (Flor Peeters u. a.) sind in­zwischen weitgehend verpönt (was die Applikatur, Artikulation und Phrasierung barocker Musik angeht, wohl auch zu Recht). Die meisten Orgel-Anfänger werden ihren Unterricht wohl mit Literatur aus der vorromantischen Ära des „Non-Legato“ beginnen. Der „Sprung“ zur Romantik und in die musika­lische Moderne mit einem entsprechenden technischen Rüstzeug wird aber oft zu früh und/oder inkonsequent vollzogen. Es lohnt sich daher sicher, sich diesbezüglich mit der Lemmens-Schule vorurteilsfrei auseinander zu setzen. 
Christian von Blohn