Divins Mystères

Organ Discoveries: Berkeley & Caumont Manuscripts. Jean-Baptiste Robin an den Grandes Orgues (1710) der Chapelle Royale de Versailles

Verlag/Label: Chateau de Versailles Spec­tacles (2023)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2024/01 , Seite 58

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In Versailles sind wohl weniger göttliche als königliche Mysterien zu verehren, aber es gibt dort eine wahrhaft königliche Orgel (Clicquot/Tribuot 1710; 1995 von Bois­seau/Cattiaux rekonstruiert, IV/34, mitteltönig). Hier hat Jean-Baptiste Robin, einer der vier Hausorganis­ten, im 20. und 21. Jahrhundert wieder aufgefundene Musik aus der Zeit Ludwigs XIV. zum ersten Mal wieder hörbar gemacht und damit entmystifiziert.
Zu diesen wiedergefundenen Sammlungen der letzten fünfzig Jahre gehören neben dem Livre d’Orgue de Montréal und dem Livre d’orgue de Limoges das Manuscript de Berkeley MS 776 (Anfang 18. Jahrhundert), 1968 wiedergefunden, 2011 erstmals und 2023 wiederaufgelegt in der Edition de Centre de Musique Baroque Versailles,* und das Le Manuscrit Caumont Orgue (1707), 2008 wiedergefunden, 2021 ediert bei Lyrebird Music. Aus diesen beiden anonymen Sammlungen – beide werden mit einiger Berechtigung Jacques Boyvin zugeschrieben ­– hat Robin ein begeisterndes Programm zusammengestellt, das mit Sternstücken diese Sammlungen porträtiert.
Das Manuscript de Berkeley enthält neben einer sehr genauen Kopie des Troisième Livre von Nicolas Lebègue noch fünf Hymen und die Sequenz Victimae pascali laudes – den vierstimmigen Satz des Plein jeu (nur die ersten beiden Zeilen) ergänzte Robin nach den durch Generalbasszahlen definierten Satz. Sie bilden den Inhalt des hier zu rezensierenden Manuscript de Berkeley. Dem kurzen, sehr informellen Vorwort der Herausgeber, die auch noch Gaspard Corrette als Komponisten diskutieren, sowie der Auflistung der von Boyvin und Corrette verwendeten Verzierungen folgen zwanzig (der Alternatim-Praxis in Frankreich geschuldete) kurze Sätze, sehr breit, blätterfreudig und sehr gut lesbar gesetzt. Von ihnen fesseln vor allem die klangschönen vier Sätze des Hymnus Veni creator spiritus.
Das Caumont Manuscrit enthält 111 Stücke: neben Werken von Raison, Lebègue, Nivers und Boyvin 81 anonyme Werke. 21 von ihnen hat Robin hier eingespielt, die bedeutendsten sind sicherlich der Dialogue pour le tremblant à vent perdu à 4 chœurs und das Offerte: Grand Dialogue à trois ou quatre chœurs avec le tremblement à vent perdu (6. Ton), das allein schon 6:21 Minuten Spieldauer hat. Dazu kommt noch ein Tierce en taille von Jac­ques-Denis Thomelin, der Organist der königlichen Kapelle in Versailles und Lehrmeister von François Couperin war.
Robin spielt selbstvergessen so typisch und völlig selbstverständlich, dass es eine große Freude bereitet, ihm zuzuhören. Das Booklet informiert in geselliger Weise über die Notenfunde (Robin), den an der Musikhochschule in Versailles tätigen Organisten, das Centre de Mu­sique Baroque Versailles, die Chapelle Royale und ihre Orgel.

Rainer Goede

* Anonyme: Hymnes et séquence pour l’orgue, Manuscript de Berkeley, hg. von Louis Castelain und Jean-Baptiste Robin, Edition de Centre de Musique Baroque Versailles CAH.357, Versailles 2023