André Pirro

Dietrich Buxtehude

Ins Deutsche übersetzt von Klaus Beckmann

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2021, 520 Seiten, 39,99 Euro
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/04 , Seite 57

André Pirro (1869–1943), französischer Musikwissenschaftler und Or­ganist, stellt in seiner 1913 erschienenen Buxtehude-Monografie anhand intensiver Quellenstudien Leben und Werk Dieterich Buxtehudes vor dem sozialen und kulturellen Hintergrund seiner Zeit dar. Für die frühen Jahre des Komponisten konnte er sich auf eine Zusammenstellung von Archivmaterial in Kopenhagen und Helsingør stützen, die der Komponist und Musikforscher Sophus Albert Emil Hagen für ihn besorgt hatte. Aus der Düben-Sammlung gewinnt Pirro ein umfassendes Bild des damals noch kaum edierten Vokalwerks. Aber auch bei den Instrumentalkompositionen liegt der Schwerpunkt auf den unveröffentlichten Stücken, da die bekannten Tastenwerke von ihren Herausgebern Spitta und Seiffert bereits besprochen worden waren, „avec précision, et avec poésie“. Pirros spätromantische Musikauffassung weist, wie der Übersetzer im Nachwort treffend herausstreicht, durchaus Berührungspunkte mit der barocken Textausdeutung auf.
Die spärliche Rezeption des Buches in Deutschland erklärt Klaus Beckmann mit der Unterschiedlichkeit des musikologischen Ansatzes: Forscher wie Hugo Riemann hätten immer wieder vor einem Übergewicht „biographischer Bagatellen“ gewarnt. Ergänzend könnte angeführt werden, dass einerseits in der deutschsprachigen Rezeption das Bild des Lübecker Organisten in den Vordergrund trat, zu dem Wilhelm Stahl durch die Auswertung der Lübecker Archive wichtiges Material lieferte, und andererseits die Kulturgeschichtsschreibung der 1930er Jahre die großen Namen in „Entwicklungsreihen“ einordnete; damit erschienen detailreiche Darstellungen einzelner Künstlerpersönlichkeiten als nicht mehr zeitgemäß. Erst 1987 legte Kerala Snyder mit ihrer Monografie Dieterich Buxtehude: Organist in Lübeck eine vergleichbare Arbeit vor, die die Forschungsergebnisse eines Jahrhunderts zusammenfasst.
Demgegenüber ist bei Pirro eine Entdeckerfreude spürbar, die sein Buch heute noch lesenswert macht, mögen auch in Einzelheiten Korrekturen nötig sein. Ein Jahrhundert nach seinem ersten Erscheinen legt Klaus Beckmann eine deutsche Ausgabe davon vor, mit dem erklärten Ziel, dem Werk „eine kritisch-sachgerechte Aufnahme“ zu ermöglichen. Bei dieser zeitlichen Distanz konnte es nicht die Aufgabe des Übersetzers sein, zu korrigieren und neue Ergebnisse einzuarbeiten, wie Bernhard Engelke dies in seiner Bearbeitung von Pirros Bach-Monografie (1910) tat. Beckmann hat vielmehr versucht, die Übersetzung dem Original möglichst ähnlich zu gestalten: Satzspiegel und Seitenaufteilung stimmen fast genau mit der französischen Originalausgabe überein, aus der auch die Notenbeispiele als Faksimiles reproduziert sind. Sogar das Druckfehlerverzeichnis auf S. 508 wird wiedergegeben, samt den dazugehörigen Errata im Haupttext. Die Übersetzungen fremdsprachiger Zitate sind hilfreich, doch wären weitere Lesehilfen wünschenswert gewesen, wie die Einfügung der BuxWV-Nummern oder der heute gültigen Bibliothekssignaturen.
Das redliche Bemühen um genaue Wiedergabe ist der Übersetzung anzumerken; gegenüber der Eleganz des Originaltexts wirken die Satzkonstruktionen allerdings oft schwerfällig. Hinzu kommen zahlreiche Missverständnisse. Nur ein Beispiel sei genannt: Pirros Aussage über Hinrich Rogge (S. 441): „… il alléguait l’opinion que Buxtehude, ,la gloire de Lübeck‘, avait de l’organiste hambourgeois …“, paraphrasiert den wohlbekannten Satz aus Rogges Hochzeitsgedicht auf Rein­cken: „Herr Buxtehud’, des Lübeck’s Zierde Weiss, was von ihm zu halten sey.“ Die Übersetzung sollte also nicht lauten: „… schützte er die Meinung vor, dass Buxtehude ,den Ruhm von Lübeck‘ vom Hamburger Organisten habe“, sondern vielmehr: „führte er die [hohe] Meinung an, die Buxtehude, ,des Lübeck’s Zierde‘, von dem Hamburger Or­ganis­ten hatte“. Dem Übersetzungs­werk wäre eine gründliche Überarbeitung zu wünschen; dann kann es von großem Nutzen sein.

Michael Belotti