Anton Bruckner
Die Sinfonien, Vol. 0
Hansjörg Albrecht an der Bruckner-Orgel zu St. Florian
Vorweg ein Eingeständnis: Der Rezensent wird immer etwas nervös, wenn es um Orgelbearbeitungen von Bruckners Sinfonien geht. Deren oft behauptete Orgelnähe ist fragwürdig; und der daraus abgeleitete Anstoß, sie auf die Orgel zu übertragen, kann sehr lange und frustrierende Hörerfahrungen nach sich ziehen, handelt es sich doch um Musik, deren Vorbilder Beethoven und Wagner nicht viel mit der Orgel im Sinn hatten.
2024 steht Bruckners 200. Geburtstag an, schon jetzt liegen etliche Einspielungen von Bruckner-Orgelübertragungen vor, und mehr werden folgen. Bei den Aufnahmen von Hansjörg Albrecht für das Label Oehms liegt das in der Natur der Sache, denn Albrecht strebt Vollständigkeit an. Er begann 2020 entsprechend mit Vol. 0 (für die „Nullte“), vergangenen Juni erschien Vol. 1, und Vol. 2 erschien Ende November.
Bemerkenswert ist zum einen die Klangqualität der Aufnahmen, zum anderen das Begleitprogramm zu den Sinfonien. So spielt Albrecht auf Vol. 0 auch die g-Moll-Ouvertüre WAB 98, auf Vol. 1 die drei Orchesterstücke WAB 97 und den Marsch WAB 96, sämtlich Studienstücke aus den 1860er Jahren. Ein schöner Einfall ist es, den Sinfonien jeweils „Bruckner-Fenster“ mitzugeben, zeitgenössische Kompositionen, die eine neue Perspektive auf Bruckners Musik eröffnen. Zur „Nullten“ gesellt sich als „Bruckner-Fenster I“ das wunderbar weiträumige Orbis factor aus den Choralbearbeitungen von Philipp Maintz (s. Musik und Kirche 4/2021, S. 271); die 1. Sinfonie kommentiert Bruckner-Fenster II von Oscar Jockel, eine zehnminütige, kreisend kadenzierende Steigerungswelle: Brucknersche Monumentalität, gebrochen durch die Erfahrung von Messiaens Apparition de l’Église éternelle.
Betrachtet man die klangliche Umsetzung, so weisen schon die gewählten Orgeln – die Bruckner-Orgel in St. Florian, die neue Rieger-Orgel des Linzer Brucknerhauses und, bei Vol. 2, die Willis-Orgel der Westminster Cathedral – darauf hin, dass Albrecht auf orchestrale Breite abzielt. Verfolgt man sein Spiel mit der Partitur in der Hand, so wird das Bemühen deutlich, nicht bloß dynamische Wellen mitzureiten, sondern auch Bruckners Instrumentation zu folgen. An der eigentümlichen Riesenorgel in St. Florian nutzt er in der „Nullten“ besonders die dynamisch vielfältig abschattierten Grundstimmen; den Streicherklang belebt er häufig mit Schwebestimmen. Die Crescendi realisiert Albrecht entlang der vielfältigen Prinzipalchöre, dem Einsatz des Blechs entsprechen die kräftigeren Zungenstimmen.
Albrechts Umsetzung der 1. Sinfonie, Bruckners „kecken Beserls“, folgt an der Rieger-Orgel des Linzer Bruckner-Hauses ähnlichen Linien, ist aber von deren französischem Klangaufbau – mit dichten Grundstimmen und einem kraftvoll dynamisierten Zungenchor – deutlich geprägt: Die dynamischen Wellen setzt er hier gern nach dem Cavaillé-Coll-Modell um, auch unabhängig vom Blecheinsatz im Original. Die Trompetenensembles und Riegerschen Mixturen lassen immer noch ausreichend Raum für sinfonischen Nachdruck.
Unausbleiblich sind in den Transkriptionen – beide stammen von Erwin Horn – Glättungen, was die Höhenlagen der Tuttis und manche Details in der durchbrochenen Arbeit betrifft; die Synkopen-Versessenheit im Kopfsatz der „Nullten“ ist in der großzügigen Akustik von St. Florian kaum zu retten. Was in Albrechts Spiel über solche Einschränkungen hinwegträgt, sind ein gewissenhaft durchgehaltenes, gewissermaßen dirigierbares Metrum, die scharfe, durchdachte Artikulation und sein Gespür für poetische Solo-Momente und Sanglichkeit selbst in den dynamischen Extremen. So glücken ihm stringent aufgebaute Satzverläufe, die sich tatsächlich der Dramatik der Orchesterversionen annähern. Sie machen gespannt auf die weiteren Sinfonien, besonders ab der Dritten, wenn die Finalkonzeptionen in ganz neue Räume des Monumentalen drängen.
… Damit bleibt die Frage: An wen richten sich solche Bearbeitungen? Bruckner-Jünger werden stets die Erregungsbögen des Orchesters vermissen, die Streicher- und Hornsätze, die expressiven Soli und differenzierten Ensembles. Die Freunde von Orgelaufnahmen dagegen dürfen reiches Farbenspiel, drastische Ausbrüche und ungebremste Monumentalität erwarten, von großen, berühmten oder auch – Brucknerhaus Linz – ganz neuen Instrumenten. Und das ohne die Komplexitätsgrade von Bach und Reger oder die vorgezeichneten Klangwege französischer Sinfonik. Diese Hörer dürften hier auf ihre Kosten kommen – stundenlang.
Friedrich Sprondel