Die Praetorius-Orgel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (W. Sauer op. 1333)

Tobias Nicolaus spielt Werke von Jiri Ropek, Praetorius, Buxtehude, Kerll, Böhm, Fritz Lubrich jun. und Rheinberger

Verlag/Label: horchmal! Musikproduktion (2012)
erschienen in: organ 2012/03 , Seite 52

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Sowohl das singuläre Instrument als auch die unkonventionelle Programmzusammenstellung dieser Einspielung empfehlen sich gewissermaßen für eine „Blindverkos­tung“: Von feinen Renaissance-Zungenstimmen über charakteristisch intonierte Flöten bis hin zu Klarinetten- oder Sphärenklängen, streichenden Prinzipalen und wohligem romantischen Volumen „begreyffet“ dieses Werk – ganz im Sinne von Michael Preatorius – alles in sich, was eine gute Orgel ausmacht. Was mag das für eine Orgel sein?
In der 1944 zerstörten Freiburger Praetorius-Orgel von 1921 realisierten bekanntlich Wilibald Gurlitt und Oscar Walcker erstmals entsprechende Klangvorstellungen: ein reines Versuchsinstrument, zunächst für den akademischen Kontext, zur Interpretation von Musik der Renaissance und des Frühbarock nach einer Musterdisposition von Michael Praetorius. In der Folge entstanden vielerorts mehr oder weniger reformorientierte Orgeln, so auch in der Aula der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale. Dort hat sich wohl die einzige Hochschul-Orgel aus jener Ära erhalten, erbaut 1926/29 von der Firma Wilhelm Sauer aus Frankfurt an der Oder, damals unter der Ägide von Walcker. Wie das Freiburger Vorbild zeichnet sie sich durch einen hohen Anteil an (kurzbecherigen) Zungen und Flöten aus, war zugleich aber auch für universitäre Repräsentationszwecke ausgelegt. Flexible Intonation, Schweller und die Subkoppel II/I sorgen bei 28 Regis­tern (+ 4 Transmissionen) für erstaunliche Feindynamik, Sanglichkeit des Orgeltons und nicht zuletzt – in verblüffendem Maße – für sonore Grundtönigkeit. Hier lassen sich Werke alter Meister in nahezu authentischer und in romantisierender Interpretation darstellen, ebenso
Und dies alles tut Tobias Nicolaus, Kirchenmusiker in Grimma/ Sachsen, mustergültig und abwechslungsreich auf der vorliegenden Einspielung. Neben Repertoire des 17. Jahrhunderts überrascht Rheinbergers a-Moll-Sonate „über den tonus perigrinus“ von 1876. Kaum bekannt sein dürften die Drei Stimmungsbilder op. 24 (1912) von Fritz Lubrich jun., einem Schüler Max Regers und Karl Straubes. Dies gilt gleichfalls für die analytisch-kargen Variationen im Geiste des Neobarock über „Victimae Paschali Laudes“ des Tschechen Jir?i Ropek (1922-2005), der jahrzehntelang als Organist der Prager Jakobskirche wirkte.
Geraten dokumentarische Aufnahmen bisweilen gerne etwas scholastisch-trocken, so spielt Nicolaus hier sehr sensibel, ja spritzig und stets spannungsreich, so dass man auch die etwa ausladenderen Partiten über „Freu’ dich sehr, o meine Seele“ von Georg Böhm in den sorgfältig ausgewählten Klangfarben durchgängig genießen kann. Gerne hört man über die wenigen Unzulänglichkeiten in Stimmung und manchen Plena hinweg, die vermutlich größtenteils auf das Konto des Ersatzmaterials sowie der ungünstigen Raumsituation gehen.
Das Booklet informiert grundsätzlich vorzüglich, verschweigt aber leider die hervorragende Restaurierungsarbeit der heute (wieder) selbstständigen Werkstatt W. Sauer in Frankfurt an der Oder.

Markus Zimmermann