Ferneyhough / Feldman / Scelsi / Xenakis

Die Orgelwerke

Verlag/Label: edition zeitklang ez-35033
erschienen in: organ 2011/01 , Seite 59

Bewertung: 4 Pfeifen

In der zeitgenössischen Musik nimmt die Orgel eine eher randständige Position ein – so wie umgekehrt die neue Musik innerhalb des Orgelrepertoires. Jenseits kirchlicher Funktionen hat das Instrument jedoch eine außergewöhn­liche klangliche Vielfalt und ein unvergleichliches Volumen zu bieten.
Vier kapitale Werke hat Bernhard Haas auf der 2004 gebauten Rieger-Orgel des Essener Doms eingespielt, die mit Finessen – wie im Voraus einspeicherbaren Registrierungen – dafür die besten Voraussetzungen bietet. Aber lässt sich der Klang so einfach von der Tradition und vom Raum abstrahieren? Brian Ferneyhough bezieht sich in Sieben Sterne auf einen Holzschnitt aus der Dürer-Apokalypse. Der symme­trische Aufbau aus sieben Sätzen, deren erster, mittlerer und letzter jeweils „Refrain“ betitelt und noch­mals halbiert sind, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hier nichts wiederholt, vielmehr befinden sich Klangfarben, Tonhöhen und Rhythmen in einem ständigen magma- bis quecksilberartigen, sternengleich funkelnden Fluss, dessen Ausgestaltung in den beiden „Verse“ und „Cappriccio“ betitelten Sätzen sogar – ungewöhnlich für Ferneyhough – dem Interpreten überantwortet ist.
Ganz im Gegensatz dazu scheint es sich bei Morton Feldmans Principal Sound um eine Übung in Statik zu handeln. Der Titel spielt an auf die Orgelregister, meint aber eigentlich, jenseits aller dramatischen Entwick­lung, eine „erste“, grundlegende Klang­erfahrung, wie sie die Komposition in ihren stoischen Repetitionen und ih­ren lang anhaltenden, raumfüllenden Tönen anspricht.
Eine quasi-religiöse Dimension scheint auch Giacinto Scelsis In Nomine Lucis innezuwohnen. Ein ununterbrochener klanglicher Fluss mit dem Ton Cis im Zent­rum versiegt am Ende einen Halbton tiefer. Schade nur, dass in diesem Fall die moderne Orgel halb gezogene Register, wie von Scelsi gewünscht, nicht zulässt.
Bis ins Extrem reizt abschließend Gmeeoorh von Iannis Xenakis die Möglichkeiten des Instruments aus. Die Komposition geht aus von baum­artigen Strukturen, auf Mil­limeterpapier gezeichnet, mal in Quer-, dann wieder in Längsrichtung gelesen. Sie beginnt mit zar­testen Linien in den allerhöchsten Registern. In den folgenden Sätzen wechseln breit auf die Tasten gelegte Bretter, Pfeifen- und Zungenregis­ter, tiefe Schwebungen und hohe Staccati, bis schließlich ein gigantischer Tsunami über alle Tonlagen hinweg einen grandiosen Höhepunkt setzt. Wo dieser Schlussakkord verhallt, erweist sich freilich die CD als ein dürftiger Ersatz für den originalen Kirchenraum, den die Wohnzimmer-Lautsprecher nie­mals ersetzen können.

Dietrich Heißenbüttel