Widor, Charles-Marie

Die Orgelsinfonien, Vol. 1: Sinfonien Nr. 5 und 6

Joseph Nolan an der Cavaillé-Coll-Orgel von La Madeleine in Paris

Verlag/Label: signum classics SIGCD292 (2012)
erschienen in: organ 2012/03 , Seite 54

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Die beiden meistgespielten Orgelsinfonien Charles-Marie Widors, opp. 42.1 und 2, gehören zu den unangefochtenen „chefs-d’œuvres“ des französisch-symphonischen Orgelrepertoires. Dementsprechend sind sie auch diskografisch bestens dokumentiert und von ungezählten renommierten OrganistInnen an herausragenden Instrumenten welt­weit eingespielt worden. Was veranlasst also ein Label, trotzdem eine neuerliche Aufnahme in den Handel zu bringen?
Um eines gleich vorweg zu sagen: Der britische Organist Joseph Nolan, appointed organist Her Ma­jesty’s Chapels Royal, St. James’s Palace London, ist ein ganz vorzüglicher Interpret. Sein Spiel zeichnet sich durch Eigenschaften aus, die viele englische Top-Organisten der ersten Garde auszeichnen: Noblesse, Disziplin, nie vordergründig virtuos-effekthascherisch, sondern „werktreu“ im positivsten Sinne und technisch stets brillant. Diese Vorzüge machen sich gleich zu Beginn des ersten Variationssatzes der g-Moll-Sinfonie Nr. 6 bemerkbar, der in gravitätisch-gemessenem Tempo beginnt, um sich in der Reprise im furios gestalteten Finale stetig und brillant zu steigern.
Nicht zuletzt aufgrund der furiosen Schlusstoccata in F-Dur dürfte die fünfte Sinfonie f-Moll Opus 42.1 die bekanntere sein. Das bereits vor Opus 42.1 entstandene vor Opus 42.2 wurde von Widor 1878 zur Einweihung der neuen Konzertsaalogel des Pariser Palais du Trocadéro uraufgeführt. Mit seinen vor Vitalität schäumenden Ecksätzen, dem furiosen „Scherzo“ oder poesievollen „Adagio“, das eine deutliche Referenz an Wagner darstellt, steht dieser symphonische Zyklus der bekannteren Schwester kompositorisch kaum nach. Joseph Nolan interpretiert beide großen Zyklen exzellent und stets mit nobler gestalterischer Geste, ohne dabei jedoch das nötige Temperament und die spielerische Vitalität vermissen zu lassen. Er widersteht zudem der Versuchung, die weltbekannte „Toccata“ allzu rasch anzugehen zu Guns­ten der Verständlichkeit und der Gravität der Musik. Der Interpret hält sich grundsätzlich an die Registriervorschriften der Originalausgabe und setzt die (recht kräftigen!) Dargassies-Chamaden aus dem Jahre 2001 – von Aristide Cavaillé-Coll angesichts der weiten und überakustischen Halle der Madeleine von Anfang an vorgesehen, aus finanziellen Gründen damals jedoch nicht realisiert – sehr nach Maßgabe des „bon goût“ sparsam ein, oft nur als Steigerung am Schluss. Alles in allem eine gelungene Interpretation, abgesehen von dem eher aufnahmetechnischen Manko, dass das klanglich sehr mächtige Récit expressif in den solistischen Regis­trierungen bisweilen zu stark dominiert (z. B. gegenüber der Flute 8’ auf dem Grand Orgue oder auch beim viel zu distanziert „hintergründig“ wirkenden 4’-Pedalsolo im „Adagio“ von Opus 42.1).
Die äußere Aufmachung des Tonträger ist betont monochrom-schlicht und die Booklet-Information einzig in englischer Sprache. Trotzdem: eine CD, die neben den ungezählten übrigen Einspielungen dieser orgel­sinfonischen Meisterwerke mit „Anstand“ bestehen kann.

Christian von Blohn