Funck, Markus T.

Die Orgeln der Hansestadt Greifswald

Ein Beitrag zur pommerschen Orgelbaugeschichte

Verlag/Label: Thomas Helms Verlag, Schwerin 2009
erschienen in: organ 2011/03 , Seite 56

Die Linie ehemaliger Hansestädte zieht sich von der norddeutschen Tiefebene entlang der Küsten von Nord- und Ostsee, von Friesland bis ins Baltikum, zum Teil tief ins Landesinnere auskragend. Nicht nur merkantile Interessen einte vom hohen Mittelalter bis in die frühe Neuzeit die Bürgerschaften, sondern auch die gemeinsame lutherische Konfession, ähnliche Formen des Rechts und das allen eigene Bedürfnis nach kultureller Identität. Zentrale Orte da­für waren die hansestädtischen „Bürgerdome“, deren Dimensionen das für die Gemeinden notwendige Raummaß oft weit überschritten. Ihre Größe symbolisierte die Allmacht Gottes, aber auch das Streben der Lebenden nach Repräsentation, beides Eigenschaften, wie sie auch der Orgel von jeher zugesprochen werden.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich über die Jahrhunderte in Städten wie Hamburg, Lübeck, Danzig, Riga, Reval etc. eine hanseatisch-protestantische Orgelkultur auf höchstem Niveau etablieren und trotz aller politischen Turbulenzen zum Teil bis in die Gegenwart halten konnte. In die Kette dieser geschichtsträchtigen Namen fügt sich auch die Stadt Greifswald ein, deren Orgelgeschichte nun erst­mals umfassend erschlossen wurde.
Diese Arbeit hat Markus T. Funck für seine an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald 2005 angenommenen Dissertation geleistet, die in der landeskundlich ausgerichteten Reihe „Beiträge zur Architekturgeschichte und Denkmalpflege in Mecklenburg und Vorpommern“ des Schweriner Thomas Helms Verlags erschienen ist. Im Mittelpunkt von Funcks Untersuchung steht die wechselvolle Orgelgeschichte der drei Hauptkirchen St. Nikolai, St. Marien und St. Jacobi, die ausführlich beschrieben ist. Des Weiteren sind die Orgeln in den anderen Greifswalder Kirchen und Gebäuden (Friedhof, Privatwohnung, Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft) berück­sichtigt; ebenso sind die Ausgrabungsfunde der ältesten Orgelteile, die bislang in Norddeutschland geborgen wurden, und nicht verwirklichte Orgelprojekte, wie in der Aula der Universität, dokumentiert. Die Geschichte eines jeden Instruments wird detailliert von der Planung bis zur Abnahme und späteren Veränderungen, bis zum Verlust oder Fortbestehen in die Gegenwart anhand der Quellen dargestellt und kommentiert, so dass auch epochale Weiterentwicklungen im Orgelbau gut nachvollzogen werden können.
Verzeichnisse von Greifswalder Organisten an zentralen Kirchen und zu den Währungen unterstützen die Orientierung, ebenso die Vorstellung sämtlicher jemals in Greifswald wirkenden Orgelbauer in kurzen Biografien. Den in Greifswald stark engagierten Orgelbaufirmen Buchholz (Berlin) und Mehmel (Stralsund) sind eigene Kapitel gewidmet. Für den Leser von weiterem Nutzen ist eine Synopse sämtlicher Greifswalder Orgelbautätigkeiten. Wichtige Dokumente zu den Hauptkirchen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen-, Orgel- und Ortsregister komplettieren den Band.
Der Wert des Bandes liegt sowohl in seiner umfassenden Darstellungsweise der allgemeinen Orgelgeschichte in der Stadt als auch in seiner Präzision bezüglich einzelner Instrumente. Das mag das Beispiel der Orgel in der Stadtkirche St. Nicolai, infolge der östlichen Grenzverschiebungen nach 1945 zum Dom aufgewertet, verdeutlichen: Carl August Buchholz vollendete das Instrument im Jahr 1832, indem er es hinter das von Christian Fried­rich geschaffene Gehäuse setzte. Über einen Zeitraum von zwölf Jahren, also seit 1820, hatten sich die Planungen erstreckt. Dabei war u. a. die Disposition mehrfach verändert worden, wobei sich ästhetische Aspekte (starke Orientierung an Grundstimmen 8’) und solche finanzieller Art (Reduzierung der Stimmenzahl) dabei in etwa die Waage hielten. Bereits 1868 erfolgten Reparatur, Umbau und Neu­intonation durch Friedrich Albert Mehmel. Ab den 1880er Jahren bis nach der Jahrhundertwende muss­ten mehrere Reparaturen durch verschiedene Orgelbauer – Karl Barnim Grüneberg, Paul Mehmel und Jean Ratzmann – vorgenommen werden, die jedes Mal auch substanzielle Eingriffe in Technik und Klang bedeuteten. Im Ersten Weltkrieg wurden die Prospektpfeifen zu Rüs­tungs­zwecken abgeliefert (1917). 1921 wurden sie von der Firma Grüneberg ersetzt, 1925 wurde ein elektrisches Windschleuderge­bläse durch die Firma Sauer eingebaut. Bis dahin war trotz aller technischen Veränderungen der romantische Charakter erhalten geblieben. Die Orgelbewegung machte auch vor Greifswald nicht halt. Entsprechend realisierten Emanuel Kemper & Sohn 1938 einen Umbau: Die Orgel wurde klanglich „aufgenordet“.
Nachdem in den nächsten Jahrzehnten bei diversen Reparaturen weitere Substanz verloren ging, wurde in einem dramatischen Prozess zwischen den Verantwortlichen ab den 1970er Jahren im Rahmen der Planung zur Neugestaltung des Doms das Todesurteil über das Instrument gefällt. Trotz der Proteste namhafter Organisten und Orgelbauer wurde das Werk abgebrochen und durch einen zeitgemäßen Neubau der Firma VEB Orgelbau Dresden (Jehmlich) 1988 unter Wiederverwendung einiger Register von Buchholz ersetzt. Zur aktuellen Diskussion der Rekonstruktion bietet das sorgfältig und aufwändig gestaltete Buch objektive Anhaltspunkte.
Michael Gerhard Kaufmann