Die Norddeutsche Orgelkunst, Vol. 3 – Hamburg

Werke von Weckmann, Praetorius, Scheidemann, Decker, Hanff, Reincken, Telemann, Lübeck

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm, MDG 320 1816-2 (2013)
erschienen in: organ 2013/04 , Seite 59

3 von 5 Pfeifen

Die vorbildlich restaurierte Stellwagen-Orgel der Marienkirche in Stralsund dient als authentisches Klangmedium für eine CD-Reihe, in der unter dem Titel Die Norddeutsche Orgelkunst Hansestädte orgelmusikalisch porträtiert werden. Auf Lübeck, das „Haupt der Hanse“, (Vol. 1, ed. 2010) und Danzig (Vol. 2, ed. 2011) folgt 2013 nunmehr Hamburg.
Nach „Calcantenglocke“ und „Aufziehen der 12 Bälge“ (vier Namen werden genannt) eröffnet Weckmanns Praeambulum I. toni a 5 die musikalische Heerschau, zunächst mit imposantem Plenumklang in kompaktem Akkordsatz. Sieben Takte später beginnen die Oberstimmen über ausgedehnten Basstönen zu passagieren, wobei die Zeichnung der skalaren Linien – immerhin der kompositorische Sinn dieser Strecke – vom massiven Bass arg bedrängt wird. Für die Fuge wählt Martin Rost ein anderes Werk (RP), die Einfärbung der Octava 4’ durch Quintadeen 8’, Sesquialtera und Trechter Regal 8’ schwächt indes den Kontrast gegenüber dem vorausgegangenen farbigen HW-Plenum eher ab, als dass sie ihn erwartungsgemäß verstärkt. In der abschließenden „Tripeltaktfuge a 5“ wird das Plenumkolorit des Anfangs wieder aufgegriffen und dadurch eine Rahmung erzeugt – gewählt wird also nicht die alternative Möglichkeit, die Tripeltaktfuge klanglich aus der vorangehenden Dupeltaktfuge zu entwickeln, analog der „Umtaktierung“ der Komposition.
Originalklang pur bietet die Diskantlinie in Hanffs ausdrucksstarker Monodie Erbarm dich mein, wo der RP-Prospekt-Prinzipal 8’ mit „Pfeifenbestand von Stellwagen“ als Solostimme zu hören ist. Scheidemanns Motettenkolorierung Alleluja nach Hassler erklingt in kraftvoller Akkordik der Mittel- und Unterstimmen; der flink figurierende Diskant hätte demgegenüber mehr Zeichnung verdient, zumal die Kompo­sition diese Klangregion bzw. den Spaltklang geradezu favorisiert. Das Werkprinzip bzw. die Stereophonie („Tiefenstaffelung“) erscheint in der Aufnahme indes weniger ausgeprägt – mehrere Stücke rechnen streckenweise mit kleinmotivischen Diskantdialogen. Transparente Farbigkeit dominiert Reinckens An Wasserflüssen Babylon, während beim letzten Stück der CD, Lübecks Praeludium d-Moll, sonorer Plenumklang noch einmal die majestätische Pracht und Erhabenheit der Stellwagen-Orgel unter Beweis stellt.
Völlig unbegreiflich bleibt allerdings, wie Hamburgs Orgelkunst ohne den Gründervater Hieronymus Praetorius bzw. dessen umfangreiches, 1602-09 entstandenes Orgelœuvre (Visby-Tabulatur) auf schlüssige Weise präsentiert werden kann. Das Geschichtsbild ohne ihn gehört dem 19. Jahrhundert an und ist inzwischen längst, den Fakten entsprechend, korrigiert worden (Leichsenring 1921, Kite-Powell 1979 f., Beckmann 2003, 2005).

Klaus Beckmann