Lothar Graap
Die Nacht ist vorgedrungen
Choralpartita für Orgel
Der Begriff Choralpartita meint in diesem Fall nicht die übliche Variationenfolge barocken Zuschnitts, sondern eine lose (suitenhafte) Reihung von fünf individuellen Satzformen: Präludium, Aria, Toccata, Passacaglia, Choral. Der Komponist empfiehlt zwar, sie als geschlossenes Stück aufzuführen, falls indes im Gottesdienst, könne man einen der Sätze als Nachspiel oder an anderer Stelle verwenden (Vorwort). Ein näherer inhaltlicher Bezug der fünf Tonsätze zu den fünf Strophen der Dichtung Jochen Kleppers wird nicht weiter thematisiert, mithin ist der Spieler gefordert, die ausdrucksmäßig recht unterschiedlichen Charakterstücke ad hoc zu bündeln. Diese 1972 entstandene Partita ist dem Melodisten Johannes Petzold (191285) gewidmet, dem Lothar Graap (geb. 1933) freundschaftlich verbunden war.
Im achtelmotorisch geprägten Präludium werden die einzelnen Liedzeilen im Sopran und Bass in Choralmensur zitiert, wobei der Formgrundriss des Liedes selbst durch Wiederholung der Takte 1 bis 12 (Stollen) beibehalten wird. Entscheidend ist hier aber die Klanghaltung der Graapschen Tonsprache, nämlich ein charakteristischer Einsatz der Dissonanz. Diese war traditionell als Lizenz mit Vorbereitung, Wirkung und Rückkehr ins konsonante Umfeld verwendet worden, nunmehr gefällt es Graap, mit einer bestimmten Auswahl von dissonanten Intervallkonstellationen wie Moll-Septakkord, Quartklang, Mixturklängen usw. eine Ausdruckssphäre zu erzeugen, bei der vielmehr ein kaleidoskopartiges Farbenspiel der Klänge im Vordergrund steht als das Phänomen Harmoniestörung und deren Auflösung (der Komponist und Musiktheoretiker Wilhelm Keller, 19202008, hat für solch statische, ohne Auflösungszwang wirkende Dissonanzen den Begriff Personanz geprägt). Zudem zeigen sich Spuren von Hindemiths Wertigkeitssystem der Klänge in der Organik des Tonsatzes, der stets diszipliniert und hörerfreundlich zugleich von Meisterhand (Stimmführung!) gestaltet wird.
Völlig anders präsentiert sich die Toccata. Das Initialintervall der Liedweise, die Quarte, erklingt vierstimmig und jeweils apart personant eingekleidet, zum Ruf oder Aufschrei (ff) verkürzt, im Manual, sogleich von kurzer Pedalfigur (Sechzehntel, ff) dialogisch fortgeführt in eruptivem Schwung bauen sich Linien und Klangballungen sehr schnell auf, die Dramatik wird durch variable Satzdichte unterstützt (Ein- bis Fünfstimmigkeit). Selbst in dieser spannungsgeladenen Aktion hält sich der Komponist an die Liedvorlage und lässt die Stollenbearbeitung wiederholen. Melodiefetzen, oft rhythmisch modifiziert, steigern die Handlungsdichte bis in die besondere Schlussentwicklung hinein, deren ganztönige Sequenzierung abwärts ebenso aufhorchen lässt (T. 30, Alt, zweimal ces?) wie am Ende die hochkarätig personante Verdichtung von der Fünf- über die Sechs- bis zur unerwartet hell strahlenden Siebenstimmigkeit des Finalklangs G-Dur + 6 + 9: Hier nimmt die Bearbeitung des eher herben Adventsliedes den Lichterglanz des Christfestes vorweg.
Klaus Beckmann