Bach, Johann Sebastian

Die Leipziger Orgelchoräle (BWV 651-68) / Canonische Veränderungen (BWV 769)

2 SACDs

Verlag/Label: Dabringhaus & Grimm MDG 906 1619-6 (2010)
erschienen in: organ 2011/02 , Seite 50

4 Pfeifen

Johann Sebastian Bach hatte seiner als Leipziger Choräle geläufigen Sammlung groß angelegter Choralbearbeitungen (BWV 651-668) für die Orgel mit (mindestens) zwei Manualen und Pedal den Originaltitel Achtzehn Choräle von verschiedener Art zugedacht. In seinem letzten Lebensjahrzehnt selektierte und überarbeitete er ältere Partituren mit der Absicht, sie im Druck neu zu veröffentlichen. Wir haben es hier folglich – neben den großen Bearbeitungen aus dem 1739 gedruckten Dritten Teil der Clavierübung – mit dem kompositorisch gewiss tiefsten und musikalisch reifsten zu tun, was Bach an choralgebundener Orgelmusik überhaupt hervorgebracht und hinterlassen hat.
Bach wählte dazu Kompositionen aus unterschiedlichsten biografischen Perioden – die meisten Sätze dürften jedoch bereits in Weimar entstanden sein. In etlichen Fällen existieren (mehrere) ältere Lesarten, so finden sich die beiden letzten Sätze zugleich auch im Orgelbüch­lein; nicht immer weichen diese Frühformen so weit von der Endfassung ab, dass sie eigene BWV-Nummern erhielten. Aber Bach wäre nicht er selbst, hätte er die Gelegenheit nicht genutzt, zahlreiche Korrekturen im Detail anzubringen. In der Staatsbibliothek zu Berlin befindet sich eine Handschrift, in der auf die Sechs Triosonaten BWV 525-530 zunächst 17 Orgelchoräle sowie die Canonischen Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ BWV 769 folgen, die Bach um 1747/48 komponierte. Zudem schuf er die Kunst der Fuge, die er nicht mehr ganz vollendete. „Zum Ersatz des Fehlenden an der letztern Fuge ist dem Werke am Schluß der 4stimmig ausgearbeitete Choral: Wenn wir in höchsten Nö­then sind etc. beygefügt worden“, schrieb Bach-Biograf Johann Nikolaus Forkel. „Bach hat ihn in seiner Blindheit, wenige Tage vor seinem Ende seinem Schwiegersohn Altnikol in die Feder dictirt. Von der in diesem Choral liegenden Kunst will ich nichts sagen; sie war dem Verf. desselben so geläufig geworden, daß er sie auch in der Krankheit ausüben konnte. Aber der darin liegende Ausdruck von frommer Ergebung und Andacht hat mich stets ergriffen, so oft ich ihn gespielt habe, so daß ich kaum sagen kann, was ich lieber entbehren wollte, diesen Choral, oder das Ende der letztern Fuge.“
Mit diesem legendären Fragment jedenfalls endet die oben benannte Handschrift. Diese 18 Leipziger Choräle sowie die Canonischen Ver­änderungen über „Vom Himmel hoch“ spielte der kanadische Organist Craig Frederick Humber für das Label Dabringhaus & Grimm auf der Silbermann-Orgel in der Freiberger Petri-Kirche ein. Der 35-Jährige gelangte – nach eigenem Bekunden gemäß dem von ihm selbst verfassten Booklettext – erst über Umwege zur Orgel. Nach einem abgeschlossenen naturwissenschaftlichen Studium (Physik, Mathematik, Chemie) in Kanada absolvierte er seine Solistenausbildung im Konzertfach Orgel in Leipzig, Lübeck und Wien (Klasse Michael Radulescu). Als erster nord­ame­rikanischer Preisträger des Internationalen Gottfried-Silbermann-Wettbewerbs in Freiberg konzertiert er schwerpunktmäßig an historischen Orgeln des 17. und 18. Jahrhunderts.
Für das auf dieser CD versammelte Repertoire erscheint die aus der Entstehungszeit der Musik datierende – 1735 eingeweihte – Gottfried-Silbermann-Orgel der St.-Petri-Kirche im sächsischen Freiberg mit ihrem sonoren Klangfarbenreichtum als ideale Wahl. Die opulente Zweimanualigkeit des gravi­tätischen Instruments – mit 32 Registern und 32’-Pedal die größte zweimanualige Orgel Gottfried Silbermanns! – bietet für diese kontrapunktisch-komplexe c. f.-gebundene Literatur mehr als adäquate Voraussetzungen, wie der Tonträger beweist. Dieser zieht den Hörer vom ersten Takt an in den Bann: Die Grundgewalt des 32’-
gesättigten Pedals und das gravitä­tische Silbermann-Plenum lassen die initiale Fantasie über Luthers Pfingst­choral „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“ (BWV 651) auf spektakuläre Weise als barocke „Orgelsinfonik“ majestätischen Zu­schnitts erscheinen. Zunächst überzeugt – das sei fairerweise gesagt – den Hörer das prächtige Orgelwerk; daran vermag auch der gelegentliche Eindruck von Windstößigkeit bei lebendig „atmendem“ Wind kaum etwas zu ändern.
Das durchweg natürlich erscheinende, stets klar zeichnende und dabei unverfälscht-räumliche Klangbild der Orgel gefällt ebenfalls. Zu loben ist fraglos das mitreißend-vitale Spiel Humbers, der mit seinem kraftvoll-jugendlichen Zugriff dem Klischée von der verstaubten Bach-Perücke gehörig zu Leibe rückt. Die in Faktur wie bezüglich des jeweils zugrunde liegenden Affektgehalte sehr unterschiedlichen Cho­räle gestaltet und registriert er abwechslungsreich-differenziert, so dass letztlich der gesamte Registerfundus der Orgel im Verlauf dieser Doppelaufnahme nahezu lückenlos abgebildet wird.
Zu den Glanzpunkten zählen neben dem pfingstlichen Eröffnungstrack insbesondere BWV 666 „Jesus Christus, unser Heiland“ (alio modo), dessen rastlose 12/8-Motorik der Interpret als virtuose Gigue gestaltet, wie auch das intovertiert-herbe „Nun komm, der Heiden Heiland“ (BWV 659) in g-Moll oder schließlich die raffiniert und fragil empfundenen Canonischen Veränderungen. Der Sterbechoral „Vor deinen Thron tret’ ich hiermit“ (BWV 668) bildet den sinnreichen Beschluss der zweiten CD.
Ob man hier nicht besser auf den Einsatz des allzu betulich „eiernden“ Tremulanten verzichtet hätte – getreulich der Maxime, dass weniger bekanntlich oft mehr ist? Bach-Interpreten wie Ton Koopman haben dem Publikum durch ihre Aufnahmen eindrücklich demonstriert, wie kantabel und be­rückend der tiefe Glaubenszuversicht atmende C. f.-Bogen gerade auch aus der „irritationslosen“ Ruhe des in sich gefes­tigten Klangs (die Freiberger St.-Petri-Orgel gibt es ja her!) ohne Tremulant klingen kann.
Seitens der Kritik eine klare Bach-Empfehlung, nicht allein für den engeren Kreis eingefleischter Silbermann- oder Bach-Freunde (mit dieser CD könnte man es allerdings rasch werden).
Wolfram Adolph