Die helvetische Orgel
Fantasie über Unser Leben gleicht der Reise (Beresinalied) | Suite helvétique | Carillons suisses | Schweizer Volkslieder | Variationen über Trittst im Morgenrot daher
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Das Frontcover dieser CD ist nicht eben typisch für Orgelmusik-Tonträger: Der Betrachter schaut auf friedlich grasende bzw. ruhende Kühe auf einer Almwiese, dahinter Gebirgszüge, die in blauer Ferne verschwimmen. Das Alpenidyll passt jedoch gut zum Inhalt der Scheibe: Auf dieser huldigt der Schweizer Organist Stephan Thomas in Eigenkompositionen der helvetischen Orgel. Ländliche Szenen voller Postkarten-Buntheit malt er in seiner Suite helvétique, wo Am Alpsee sublimierte Jodler ertönen, zarte Flöten ein Lueget vo Bärge und Tal anstimmen und in den übrigen Sätzen ausgelassene Fest-Fröhlichkeit herrscht. Lefébure-Wélys so profan anmutende Orgelmusik ist nicht weit, wenn hier walzer- und polkaartige Klänge nebst Volksmelodien in den Vordergrund treten.
Eine Gruppe weiterer Volkslieder arrangierte Thomas für die Orgel: schnell vorüberziehende Minuten-Miniaturen, in denen der ganze Biedersinn des Genres unverhüllt ans Licht treten darf: mit herztausiger Dur-Seligkeit (Morge früe), nahezu kindlich schlicht (S Ramseyers wei go grase), in sanften Hornquinten die Ohren schmeichelnd (Gang rüef der Brune) oder wie von einer Kirmesorgel ertönend. Weitere Inspirationen lieferten dem Organisten und Komponisten Thomas die Töne von Glocken bestimmter Schweizer Kirchen: Aus deren Geläute entwickeln sich in den Carillons suisses die ostinaten schwingenden, pendelnden Motive.
Impuls für das Entstehen aller hier eingespielten Werke gaben die traditionellen Orgelkonzerte zum Schweizer Nationalfeiertag in der Churer Stadtkirche St. Martin, wo Thomas seit 1989 tätig ist. Am dortigen Instrument ist auch ein Teil der Aufnahmen entstanden: einer 1868 erbauten Kuhn-Orgel mit 43 Registern auf drei Manualen und Pedal, mechanischer Traktur sowie pneumatischer Registratur. Bei den restlichen Werken erklingt die kleinere zweimanualige Orgel der Churer Regulakirche, die in ihrem Kernbestand auf ein 1745 von Joseph Lochner errichtetes Instrument zurückgeht, das jedoch 1897 umdisponiert und 1971 auf 21 Register erweitert wurde.
Neben allen lustvoll inszenierten Genrestücken enthält die CD noch zwei Werke von gewichtigerem Anspruch. Pathetischere Töne herrschen zu Beginn und zum Schluss der Variationen über [die Schweizer Nationalhymne] Trittst im Morgenrot daher. In die Folge der historisch an der Musiksprache des 19. Jahrhunderts orientierten Abwandlungen der Melodie gerät allerdings auch ein schwungvoller Walzer und sogar leicht augenzwinkernd ein Bolero. Eine weitere bekannte Hymne, das Beresinalied, entwickelt Stephan Thomas zur Choralfantasie in der Nachfolge Max Regers, deren Abschnitte den wechselnden Sinngehalt der einzelnen Strophen erschließen.
Gerhard Dietel