Maarten ’t Hart

Der Nachtstimmer

Roman

Verlag/Label: Piper, München 2023, 307 Seiten, 12 Euro
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2024/01 , Seite 53

Gabriel Pottjewijd ist nach eigenem Bekunden ein Orgelstimmer, der „fast ausschließlich Schnitger-Orgeln stimmt“. Davon kann niemand leben, aber Pottjewijd ist bescheiden und orgelverliebt. In Der Nachtstimmer verschlägt es ihn in eine Hafenstadt in Südholland, wo er eine Orgel des Schnitger-Schülers Rudolf Garrels stimmen soll, eine Hafenstadt, die laut Klappentext „von Misanthropen und Hinterwäldlern“ bevölkert wird.
Eine Orgel stimmen kann man „nur in einem Raum, in dem vollkommene Stille herrscht“. Gleichzeitig benötigt man „einen geschickten Helfer an den Manualen“, so Oosterhuf und Bouwman in ihrer Orgelbaukunde. Bereits am zweiten Arbeitstag ist es mit der Stille vorbei. Denn von der Schiffswerft – gerade hat die „Turmuhr der Kirche neun Schläge zu Gehör gebracht“ – dringt plötzlich das „Klirren von Ankerketten, das gräßliche Heulen von pneumatischen Bohrern, sowie allerlei anderes Donnerdröhnen“ herüber. „Dort wird immer schwer geschuftet, mitunter bis in die späten Abendstunden“, erklärt der Küster die Lage. Am Vortag (dem doch so positiv vorangeschrittenen ersten Tag der Stimmung) habe man wegen eines wirtschaftlichen Erfolgs „zum ersten [sic!] Mal ein großes Fest veranstaltet“, und alles lag ausnahmsweise still.
Eine überaus geschickte Helferin kann die Gemeinde stellen: eine stumme (?) junge Dame namens Lanna, die sich als wahrer Segen für den Orgelstimmer erweist. Sie weiß Bescheid, kennt das Proze­dere des Stimmens und braucht keinerlei weitere Anleitung. Obendrein scheint ihr diese doch recht eintönige Arbeit wirklich Spaß zu machen. – Aber wird die gestrenge Mutter es erlauben und ermöglichen, dass Lanna die Tasten bedienen darf, auch wenn Gabriel seine Arbeit fürderhin in der Nacht verrichtet?
Die Mutter, eine portugiesisch-sprechende Brasilianerin und Kapitänswitwe, entpuppt sich als eigensinnig und wenig zugänglich. Glu-ckenhaft beschützt sie ihre Tochter vor allem möglichen Unbill des Le­bens. Furienhaft ist ihre Reaktion auf alles, was ihr gewohntes Leben ins Wanken bringen könnte. Trotzdem entspinnt sich sehr langsam ein feines menschliches Miteinander dieser drei Hauptakteure des Buches. Pottjewijd kauft sich sogar eine portugiesische Bibel, um die Sprache der beiden (der Mutter?) zu lernen, denn das Niederländisch der Witwe holpert gewaltig.
Ein skurriler und spannender Ro­man, der – trotz eines Mordversuchs an Pottjewijd – kein Krimi ist. Seltsame Gestalten lernt der Leser kennen und muss über Fragen nachdenken, die die Welt nicht wirklich bewegen (Warum kann Bileams Eselin reden?). Neben großem orgeltechnischen und orgelhistorischen Kenntnisreichtum ist das Buch von vorn bis hinten durchzogen von Liebe. Liebe zur Orgel natürlich zuallererst, Liebe zum Essen, wenn Pottjewijd in seiner Unterkunft statt der üblichen Spiegeleier mit Milchweißbrot von der Bedienung FGK (Fleisch, Gemüse, Kartoffeln = gutbürgerliche Küche) angeboten bekommt. Und ganz am Ende die Liebe zur Liebe selbst.

Ralf-Thomas Lindner