Marcel Dupré

Der Kreuzweg op. 29 / Te Deum / 3 Esquisses

Winfried Lichtscheidel an der Woehl-Orgel von St. Martinus in Sendenhorst

Verlag/Label: Ambiente Audio ACD-2043 (2023)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2024/01 , Seite 62

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Neben der 1924 entstandenen Symphonie-Passion op. 23 ist der 1932 im Druck erschienene Chemin de la Croix das markanteste symphonische Großwerk in Marcel Duprés Werkkatalog. Beide als „symphonische Dichtungen“ bezeichneten Or­gelwerke sind aus einer öffentlichen Improvisation entstanden, beide wurden vom Komponisten auf den gigantischen Cavaillé-Coll-Orgeln in Saint-Sulpice, Paris (Der Kreuz­weg, 1958), und in Saint-Ouen in Rouen (Symphonie-Passion, 1965) auf Tonträgern aufgezeichnet.
Vom Text der Kreuzwegmedi­tationen Paul Claudels inspiriert, zeichnet Marcel Dupré den Leidensweg Jesu in 14 Stationen musikalisch nach und veranschaulicht in seiner einzigartigen Komposition die in fast jeder katholischen Kirche vorzufindenden emotional beladenen Bilderzyklen von der Verurteilung über die Kreuzigung bis zur Grabeslegung. Dramatische Sze­nen kontrastieren mit lyrischen Meditationen. Interessanterweise entsprechen bei Dupré nicht alle Titel den kirchlichen Stationstexten: Bei der 8. Station „Jesus begegnet den weinenden Frauen“ heißt es in Duprés Partitur viel bedeutungsvoller „Jesus tröstet die ihm nachfolgenden Töchter Israels“. Das Booklet veranschaulicht in Notenbeispielen die in der Musik wiederkehrenden symbolischen Leitmotive und lautmalerische Rhythmen. Manche werden umgedeutet: das Tränenmotiv der weinenden Frauen beispielsweise erscheint in der letzten Station zu mystischer Freude verklärt in neuem Licht.
Das biblische Geschehen, die mal dramatische, mal lyrische Stimmung beim Leidensweg Jesu lebendig darzustellen, ist in dem einstündigen Werk eine schwere Herausforderung an den Interpreten und an die Orgel. Die für die Einspielung gewählte Woehl-Orgel ist in ihrer symphonischen Ausrichtung und Farbvielfalt bestens dafür geeignet. Registrierung und Spielweise sind auf Durchhörbarkeit ausgerichtet, und die exzellente Aufnahmetechnik vermittelt ein weites Raumgefühl. Winfried Lichtscheidel spielt mit großer Präzision, hat einen sensiblen, feinfühligen Anschlag und bewältigt die technisch schwierigen Passagen mit Bravour.
Sein meis­terhaftes Können zeigt sich insbesondere in den zupackend und beeindruckend dargestellten Stü­cken Te Deum und 3 Esquisses. Im Gegensatz zu diesen ganz auf Virtuosität angelegten, brillant vorgetragenen Etüden, scheint mir gerade die technische Versiertheit des Organisten der Interpretation des Kreuzweges etwas im Wege zu stehen. Manche Station wie zum Beispiel die anfängliche tumulthafte Szene der aufgewühlten, „Barrabas“ schreienden Menschenmenge, klingt eine Spur zu beherrscht, zu vorbereitet. Die musikalische Darbietung hätte an bildlicher Ausdruckskraft gewonnen, wenn diese Szene mit mehr wagemutiger Emotionalität und Spontaneität gespielt worden wäre. Freie Tempogestaltung, schärfer akzentuierte Rhythmen und eine Loslösung vom reinen Notentext gehören allgemein zu den Merkmalen französischer Musik. Idealerweise hätten diese dazu geführt, den ursprünglich improvisatorischen Impetus der Kreuzwegstationen wieder sichtbar werden zu lassen.

Helga Schauerte