Bach, Johann Sebastian

Das Wohltemperierte Klavier für Orgel

Verlag/Label: 4 CDs, Brilliant Classics 95157 (2016)
erschienen in: organ 2016/04 , Seite 55

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Fokussieren wir uns hier – aus Platzgründen – sozusagen exemplarisch auf die Einspielung der ers­ten zwölf Praeludien und Fugen des ersten Bandes: Das Praeludium I in C-Dur wird von Daniele Boccaccio doch in einem recht schnellen Tempo gespielt, wobei man auf der Orgel durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, zu Beginn des Zyklus eine ruhig-meditative Klangfläche zu zeichnen, quasi eine Musik vor der Musik, das Geheimnis des Kosmos vor seiner Entstehung. Demgegenüber erscheint die Tempowahl der Fuge sehr vorteilhaft, durch welche die kontrapunktischen Linien klar verständlich werden. Boccaccio unterstreicht zudem sensibel die harmonischen Feinheiten und Spannungen – etwa die Querstände – der Komposition. Der hohe C-Dur-Schlussakkord in der rechten Hand (E2, G2, C3) würde hier aber wieder eher gegen als für die Orgel sprechen.
Virtuos erklingt Praeludium II in c-Moll, wobei man sich hier beim kurzen Adagio-Teil noch ein wenig mehr Freiheit im Stil einer freien Fantasie gewünscht hätte. Ebenfalls in diszipliniertem Tempo und zudem fein ausdifferenziert erklingt die Fuge. Von zauberhaft glockenspielartiger Wirkung, in schnellem Tempo und klar artikuliert erscheint das Praeludium in Cis-Dur. Überhaupt gehen die zweistimmigen Kompositionen zumeist problemlos und schön auf der Orgel – man denke hier auch an die Duette aus Teil 3 der Clavierübung. Mit leichtem Augenzwinkern wird die folgende Fuge in Cis-Dur mit ihrem volkstümlichen Thema vorgetragen.
Beim Praeludium in cis-Moll werden die Achtel in leicht gebundener, inegaler Manier interpretiert: ein interessanter Ansatz, zumal die Struktur des Satzes durchaus „französisch“ ist; ein in der Satzart mit seinen aufgefächerten Harmonien doch eher cembalistisches Stück. Hin und wieder hätte man sich auch an anderer Stelle im Zyklus mehr eine Befreiung vom Non-legato-Spiel gewünscht, wenn dieses dem Wesen bestimmter Figuren zuwiderläuft. Die cis-Moll-Fuge eignet sich jedoch wieder ausgesprochen gut für die Orgel und in großzügig-gravitätischem Duktus wird sie hier im Grand-Jeu ausgeführt. Besonders schön ist hier der Einsatz des Themas auf dem tiefen Cis im Pedal in T. 73 (ein Ton, über den allerdings nicht alle barocken Orgeln verfügten und der von Bach in seinen Orgelwerken nur äußerst selten im Pedal
– etwa in der g-Moll-Fantasie BWV 542 – verwendet wird).
Ebenfalls überzeugend auf der Orgel klingt das Praeludium in D-Dur, mit seinen vom Interpreten sauber herausgearbeiteten schnellen Figuren der rechten Hand. Die Fuge
– obgleich von der Satzstruktur her nicht wirklich organistisch – entfaltet erstaunlicherweise eine beeindruckende Wirkung im Plenum. Unproblematisch ist auf der Orgel zudem auch das Praeludium in d-Moll, bezeichnenderweise wieder ein Duett. Die Fuge dagegen, mit den beiden nicht selten recht tief gesetzten Stimmen (l. Hd.), kann auf der Orgel nicht so recht ihre Wirkung entfalten, obgleich schön gespielt.
Beeindruckend ist hingegen das Praeludium in Es-Dur und es wird von Boccaccio auch in seiner majes­tätischen Form ruhig-pulsend vorgetragen, wobei die bewusste Hervorhebung gewisser „falscher“  Töne
– etwa des Ges in T. 49/66 – von einem tiefen Verständnis des Interpreten um die Musik, die er spielt, zeugt. Durchaus plausibel auf der Orgel ist auch die Fuge in Es-Dur, die wieder eine passenden Tempowahl und eine gute (zuweilen fast überdeutliche) Artikulation bei den Themeneinsätzen aufweist.
Wenig geeignet für die Orgel scheint das Praeludium in es-Moll mit seinen vielen Arpeggien: Die langsame, träumerisch-zarte Fantasie der Mu­sik bekommt durch den statischen Klang hier etwas Kühles, ja Abweisendes. Ein wenig spröde klingt auch die Fuge in dis-Moll auf der Orgel, obgleich musikalisch durchaus intelligent gestaltet.
Ausgesprochen vorteilhaft ist das Praeludium in E-Dur in heller Registrierung. Boccaccio zeigt hier wieder – etwa bei der interpretatorischen Verdeutlichung der aus der italienischen Musik kommenden „falschen“ Töne wie dem chromatischen Abstieg in der Oberstimme in den Takten 7/8 und 21/22 –, dass er die Komposition in ihrer inneren Poesie verstanden hat und sensibel auszuleuchten vermag. Auch die Fu­ge, in ihrer kraftvoll-überbordenden Fröhlichkeit, ist in Boccaccios Interpretation auf der Orgel plausibel. Wie bereits erwähnt, hat das Praeludium in e-Moll mit seiner freien Kantilene in der Oberstimme, die gegen die metrische Strenge der in gleichen Abständen wiederkehrenden perkussiven Akkordschläge  aufbegehrt, bei der Darstellung durch die Orgel wieder gewisse Probleme. Überzeugend ist jedoch die folgende Fuge in e-Moll – ein Duett –, obwohl hier die Führung der beiden Stimmen zuweilen in leeren Doppeloktavparallelen (sic) in den Takten 19/20 auch wieder Zweifel aufkommen lässt, ob das Stück wirklich für die Orgel geeignet ist.
Ausgesprochen schön klingt das Praeludium in F-Dur, und es wird vom Interpreten in seiner ganzen Zartheit ausgedeutet. Leicht dahin­huschend sodann die F-Dur-Fuge im 3/8-Takt, bei welcher etwa das über fünf Takte hindurch gehaltene a in der Unterstimme (Orgelpunkt) tatsächlich für eine Orgelkomposition sprechen könnte. Das Praeludium in f-Moll – obwohl eindeutig für ein Tasteninstrument mit Saiten gedacht – lässt die Musik bei der Ausführung auf der Orgel dennoch überraschend schön zur Wirkung kommen. Auch die folgende Fuge in f-Moll bringt diesbezüglich keine Probleme, sieht man einmal von den sehr tief liegenden Harmonien in Takt 46 ab.
Beim Anhören aller vier CDs muss man vor allem die große Arbeitsleistung des Interpreten bewundern sowie dessen musikalische Intelligenz, das an den Tag gelegte spielerische Feingefühl und den Mut zum Wagnis, das gewaltige Tastenmusikwerk zur Gänze auf der Orgel einzuspielen. Kurzum, ein großes Projekt, bei dem aber auch gewisse Zweifel und offene Fragen im Detail bleiben.

Eberhard Klotz