Scheidt, Samuel (1587-1654)

Das Orgelwerk, Vol. 9

Verlag/Label: Fagott F-3909-8 (2014)
erschienen in: organ 2015/01 , Seite 54
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Samuel Scheidts Tabulatura Nova III (1624) bietet neunmal sechs (plus drei überzählige) Magnificat-Orgelsätze zu alternatimpraktischer Aufführung, nämlich jeweils die gradzahligen Versus 2 bis 12. Selbstverständlich sind diese Orgelstrophen „im Ernstfall“ des Vespergottesdienstes um die Choraliter-Verse 1, 3, 5, 7, 9 und 11 zu komplettieren, wie es bei der CD des Lemgoer Marien-Kantors Volker Jänig an der von Rowan West 2010 wieder hergestellten Schwalbennest-Orgel der Fall ist. Der wunderbare Hallraum der Lemgoer Kirche übermittelt die Gregorianik der dreiköpfigen Schola samtweich in geradezu himmlischer Ruhe.
Textgrundlage ist dabei eine (leicht modifizierte) Fassung der Plotz-Tabulatur, die den lateinischen Textvortrag in Semibreves und Minimae notiert – höchst ungewöhnlich, Gregorianik mensural aufzuzeichnen, sodann: Ist die Rhythmisierung nur eine Umschrift von Punctum und Bipunctum oder tatsächlich taktusgerecht gemeint (Ak­zentstufentakt, Brevis- oder Semibrevistakt)? Scheidts Orgelversus scheinen seinem Autograf (Plotz) zu widersprechen, denn die Versus II, III, IV und V sind durchweg äqualrhythmisch, also „standard-gregorianisch“ gefasst, und nur der VI. Versus weist eine rhythmische Differenzierung à la Plotz auf (der I. Versus, ein Choralricercar, hat keinen planen C. f.). Offensichtlich möchte Volker Jänig die Ganzenote der Monophonie mit der Semibrevis der Orgelsätze annähernd zur Übereinstimmung bringen, worüber man gewiss nachdenken kann. Die Persistenz der Semibreven (gerade als Redeuntes/Tonwiederholungen) lässt allerdings den sensiblen Spieler auf Abhilfe bzw. Flexibilisierung sinnen, was um der angestrebten Expressivität willen oft zu Minirubati führt, hier und da jedoch ins unrhythmische Abseits abgleitet. 
Den V. Versus seines Magnificat III. Toni hat Scheidt gleich zweimal bearbeitet, a 4 und a 3. Gilt dieses Angebot als Auswahl oder als Pflicht? Volker Jänig hat sich für eine doppelte Orgelstrophe entschieden, was das konsequente Alternieren unterbricht. Scheidts V. Versus im Magnificat VIII. Toni wird sogar dreifach bearbeitet – spräche das nicht am ehesten für das Prinzip Auswahl? 
Auf die angeschnittenen Fragen gibt das Booklet leider keine Antworten. Stattdessen werden längst bekannte Informationen aneinander gereiht, gelegentlich bedenklich zugespitzt: Die Tabulatura nova ist somit Grundlage für die weitere eigenständige Entwicklung der Klaviermusik im deutschsprachigen Raum. Eine solche Fokussierung blendet Hamburg (Hieronymus Praetorius), Lüneburg (Johann Steffens) und Wolfenbüttel (Michael Praetorius) aus und negiert den tatsächlichen historischen Verlauf (Choralfantasie Auf 2 Clavier).
Eine glänzende Idee ist die klangliche Ausgestaltung der sieben Choralsätze aus Scheidts Tabulatur-Buch, Görlitz 1650, nach Art der Kantoreipraxis: Hier blüht der vierstimmige Orgelsatz durch Beimischung (Vokalquartett, Sopran, diskantierende Flöten, Posaune) zu attraktiver Farbenpracht und angenehmster Leichtigkeit des Seins auf.
Klaus Beckmann