Wadischat, Eberhard / Hagen Wadischat

Das Expert Orgel-Lexikon

Begriffe und Erläuterungen zur Orgel, der Königin der Musikinstrumente

Verlag/Label: Expert-Verlag, Renningen 2008
erschienen in: organ 2010/02 , Seite 59

Dies ist eine ebenso sonderbare wie unglückliche Publikation, bei der man nicht recht weiß, ob man am Ende lachen oder weinen soll … Aber das Autoren-Duo Eberhard und Hagen Wadischat scheint es be­ängstigend ernst zu meinen: Schon das vorausgeschickte Verzeichnis der allgemeinen Abkürzungen bietet An­lass zum Stirnrunzeln, erfährt der Leser hier immerhin, dass „bzw. = beziehungsweise“, „ca. = circa“, „evtl. = eventuell“, „z. B. = zum Beispiel“ oder „z. T. = zum Teil“ bedeutet, etc. Auch wenn wir ähnliches schon immer geahnt haben sollten, jetzt wissen wir es ganz genau, und zwar aus Expertenhand! Dergestalt zugerüstet erwartet den Lexikonbenutzer – unter den aufgeblähten Prolegomena – ein bizarrer Exkurs „Reflexion zur deutschen Rechtschreibung“, in dem die Recht­schreibreform als „obrigkeitlich“ angeordnetes „armseliges und halbherziges Ergebnis“ gerügt wird, um mit der kulturphilosophischen Proklamation zu schließen: „Über die Sprache entscheiden nicht wenige sogenannte ,Experten‘ [wie beruhigend!], sondern die Gesamtheit des Volkes. Die deutsche Sprache nebst ihrer tradierten Rechtschreibung sind unveräußerliche Schätze, die nach wie vor dem Volk gehören und dieses u. a. in seiner Identität legitimieren!“
Sodann beginnt der Sachteil (ein Personenteil oder Lemmata wie Silbermann, Dom Bédos, Töpfer, Cavaillé-Coll, Schnitger, Barker, Werck­­meister etc. existieren nicht!). Die anfänglichen Irritationen enden hier jedoch keineswegs: Unter Buchstabe A lesen wir „acuta (lat.: scharf). Beispiel Vox acuta = ,scharfe‘ Stimme, ähnlich dem Register Scharf(f).“ Das war es auch schon! Keinerlei Hinweise, dass es sich hier um einen die Mixtur (Miscella acuta) betreffenden Begriff handelt. Wirkliches Lexikonwissen bestünde etwa in dem Hinweis, dass diese Bezeichnung erstmals bei Andreas Werckmeister (1698) begegnet, als lateinisches Äquivalent für Mixtur, und die Gleichsetzung mit der Bezeichnung Scharff erst später im 19. Jahrhundert erfolgte … Abbildungen, Tabellen oder schematische Zeichnungen fehlen gänzlich. Wer Anschlag lapidar als „Wucht, mit der der Organist eine Taste niederdrückt (traktiert!)“, definiert, scheint mit all dem vielleicht auch überfordert zu sein.
Eine beliebte Methode der Autoren besteht unterdessen darin, einen Begriff tautologisch durch sich selbst zu erklären: „Aperta/Aperte – Flauta aperta; Tibia aperta; s. Offenflöte“ oder: „Kupferpfeife – Pfeife aus Kupfer“. Das Auslass­ventil „verhindert, dass ein Balg platzt. Es öffnet sich von selbst, wenn dieser seine maximale Ausdehnung erreicht hat.“ Über den technischen Wirkmechanismus des Ventils erfährt man allerdings nichts – und das hätte in einem Orgel-Lexikon einzig interessiert. Auch die Behauptung, dass das Hauptwerk stets das größte Werk einer Orgel sei, ist zumindest unzutreffend für alle diejenigen Orgeln, bei denen es sich anders verhält (ihre Zahl dürfte Legion sein!). Auch stellt das Vorhandensein „von einigen Weitchorre­gistern und Streichern“ keineswegs eine definitorische Eigenart des Hauptwerks dar. Das Prinzipalre­gister wird als „gewaltige Orgelstimme“ gerühmt, unter dem Lemma „Heuler“ wird der Leser nebenbei mit wohlmeinenden Hinweisen aus der Abteilung „Lebenspraktische Ratschläge“ versorgt: „Werden Undichtigkeiten aufgesucht, so sollten die Bälge und Laden auf keinen Fall mit einer brennenden Kerze ausgeleuchtet werden“ – auf diese Idee müsste man erst mal kommen; die Begründung dafür wird sogleich nachgeschoben: „denn die Orgel geht schneller […] in Flammen auf, schneller, als man denkt!“
Überhaupt gibt man sich gerne leutselig. Am Ende des kuriosen Artikels „Holz“ heißt es: „Selbst aus Bambus und auch aus Karton lassen sich Pfeifen mit z. T. sehr lieblichem Klang herstellen.“ (Wollte man das hier wissen?). Und wer dies noch nicht wusste: Horizontalzungen sind im Übrigen „waagrecht in den Raum hineingetragene [von wem?] Zungenstimmen“. Totalen Nonsens bieten auch die Einlassungen zu „Hornquinten“: „Das sind sog. ,verdeckte‘ Quinten, wie sie in der Naturtonfolge [sic!] der Hörner häufig [!] vorkommen …“ Dass „Jeux de fonds“ von Hause aus „eine Grundregistrierung aus der Romantik“ darstellt, ist freilich ebenso eine Mär wie die kühne Behauptung, dass die Unda maris grundsätzlich eine „Prinzipalschwe­bung im Orgelklang“ und „ein doppelt schwebendes Orgelregis­ter“ sei. Dass diese üblicherweise tiefer schwe­bend gestimmt ist (im Gegensatz zur Voix céleste), wird – erwartungsgemäß – verschwiegen. Ranks ist auch nicht – wie behauptet – „ein Begriff der amerik. Riesen­orgeln“.
Blanker Unsinn begegnet bei der Erklärung orgelbaulicher Zentralbegriffe wie Schwellwerk; unhaltbar ist die Behauptung: „Das Schwellwerk beeinflusst variierend die Tonstärke, ohne dabei den Toncharakter (die Klangfarbe) zu verändern.“ Das Gegenteil ist wahr. Es werden bekanntlich charakteristische Obertöne bei geschlossenem Schweller herausgefiltert, womit sich zwangsläufig auch der Klang charakteristisch verändert.
Unverzeihlich ist die Tatsache, dass ein Lexikon der Orgel nicht einmal auf gebräuchliche Stimmungen und Stimmungssysteme näher eingeht. Dazu kommt die ebenso törichte wie ärgerliche Behauptung, heutzutage sei primär die gleichstufige Orgelstimmung von Bedeutung. Über die gerade heute oft verwendeten Stimmungen nach Werckmeis­ter (I-IV), Kirnberger (I-III), Neidhardt (I-III), Valotti, Praetorius etc. erfährt man unter dem Begriff „Stimmung“ oder „Temperatur“ nichts.
Blues­quarte wird erschöpfend als „ungewöhnliches Register im Positiv“ gewürdigt. Boîte accouplée wird zur Abwechslung mit „Schweller offen“ und Boîte séparée mit „Schweller geschlossen“ übersetzt; Bombarde als „Trompetenregister 16’ im Schwellwerk [!]“ vorgestellt und Bombardenwerk/Bombardenklavier als ein „Manualwerk mit außergewöhnlich vielen trompetenartigen Registern, vor allem [!!] viele Prinzipale und auch viele [!] Mixturen“ definiert. Hat man je größeren Nonsens auf einer einzigen Lexikonseite gelesen?
Angesichts einer gedanklich wie sprachlich derart schlampigen Verfahrensweise erübrigen sich alle beckmesserisch-verquasten Einlassungen der Herausgeber hinsichtlich alter und neuer Rechtschreibung: „Unser Deutsch in ‚alter‘ Rechtschreibung ist so unmissverständlich, vielseitig und genau im Ausdruck, dass damit alle Gedankengänge verständlich, eindeutig-scharf und nuanciert formuliert werden können.“ Ja, warum haben sich die Herausgeber dann nicht an ihre eigene Maxime gehalten? Das von ihnen vorgelegte Lexikon spricht eine gänzlich andere Sprache, nämlich diejenige narzisstisch-aufgeblasener Ignoranz. Unverständlich dass Michael Gerhard Kaufmann, Leiter des Studiengangs „OrganExpert“ an der Staatlichen Musikhochschule Trossingen, offensichtlich nicht in den Text hineingeschaut hat, bevor er sein umfängliches Geleitwort dafür verfasste, in dem er dieser Veröffentlichung „als nützlichem Begleiter […] eine große Verbreitung“ wünscht. Dem ist aus der Sicht des Rezensenten mit Entschie­denheit zu widersprechen: Nein, diese Publikation taugt seriöserweise zu gar nichts, sie ist daher auch nicht empfehlenswert, weder nützlich für Experten und erst recht nicht für den naturgemäß weniger kundigen Laien.

Wolfram Adolph