Anonymus (Nicolaus Bruhns 1665-1697)?
Contrapunct sopra la Baßigaylos d’Altri Passacaglia
... und Choralfantasie über „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, bearbeitet für Orgel von Dietrich Kollmannsperger
Die anonyme Komposition für Violine und Basso continuo ist als Nr. 82 des Codex XIV 726 aus dem Musikarchiv des Wiener Minoritenkonvents überliefert. Sie weist eine stilistische Nähe sowohl zu den Violinsonaten Johann Heinrich Schmelzers als auch zum hanseatischen Barock auf. Versuche einer Autorenzuschreibung nennen Nicolaus Adam Strungk (Peter Wollny) und Nicolaus Bruhns (Dietrich Kollmannsperger). Ich kann die verlockende Zuweisung an Nicolaus Bruhns nicht bestätigen, denn die für seinen Personalstil sehr charakteristischen dreifachen Finalklauseln sind in diesem Stück nicht vorhanden.
Die einleitende Passacaglia beginnt recht monochrom; ihre Bewegung nimmt gegen Ende zu. Der Hauptsatz über den Choral „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ weist tatsächlich satztechnische Strukturen großer hanseatischer Choralbearbeitungen der Barockzeit „auff zwey Clavir“ auf. Die Reise durch die Bereiche Rhythmik und Harmonik ist dagegen nicht sehr weitläufig; die Komposition konzentriert sich vollständig auf die Wirkung des Violin-Solos. Zu konstatieren sind wirkungsvolle Dreiklangsbrechungen, prunkvolle Fanfarenfloskeln und violinistische Doppelgriffe. Den Charme dieser spieltechnischen Kunstfertigkeiten und der sinnlichen Klanglichkeit des Instruments wird ein barock geschulter Violinist sicher voll ausspielen können; die Orgel wird das aber wohl kaum leisten können, da deren Möglichkeiten trotz etlicher Manualwechsel hier nur marginal ausgereizt werden – insbesondere angesichts der Länge des Stücks. Dietrich Kollmannsperger hat sich für eine gegenüber der Vorlage eher scholastische Berarbeitungsweise entschieden. Deshalb entstanden z. B. über der Bassstimme Situationen mit zweistimmigen Solomanual-Episoden, die einstimmig begleitet werden. Die Alternative wären kreative Bearbeitungsverfahren gewesen, die die durch die strukturelle Ferne des Stücks zur Orgel auftretenden klanglichen Leerläufe einer maßstabgerechten Übertragung hätten vermeiden können. So bleibt jedenfalls der Wert der ebenfalls bei Edition Strube erschienen Originalversion (VS 7511) völlig unangefochten.
Fazit: Der Musikwissenschaftler jubelt angesichts dieser Entdeckung, der Barockgeiger ebenfalls, und der nicht-professionelle Organist wird dieses Stück gut bewältigen können. Der professionelle Organist hingegen bleibt interessiert, stellt sich aber wohl lieber größeren Herausforderungen.
Wolfram Syré