Stendel, Wolfgang

Consolamentum. Orgelzyklus / Invocamento für Orgel

Verlag/Label: Verlag Neue Musik NM 799, NM 800
erschienen in: organ 2011/03 , Seite 60

Der aus Magdeburg gebürtige Komponist Wolfgang Stendel, der ab 1966 an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin studierte und Meisterschüler Günter Kochans war, ist mit einem breit gestreuten Œuvre von Orchester- und Kammermusik, Liedern und Chorkompositionen an die Musiköffentlichkeit getreten. Entscheidende Anregungen erhielt er aber auch durch seine Orgelausbildung und als Mitglied des Magdeburger Domchors. Diese frühe Prägung durch ein kirchenmusikalisches Umfeld hat ihre Spuren im Schaffen Stendels hinterlassen, so in jenen beiden geistlich inspirierten Orgelwerken, deren Notenedition hier anzuzeigen ist.
Invocamento heißt die eine dieser Kompositionen, und ihr Titel ist Programm: Aus sparsamen, immer wieder pausendurchsetzten Klang­chiffren, aus signalhaften Motiven, Akkorden und Akkordrepetitionen lässt  Stendel eine Musik von appellativem Charakter entstehen. Extreme der Dynamik werden übergangslos nebeneinander gestellt: Zwischen zurückhaltendem Bitten und entsetztem existenziellem Aufschrei wechselt diese „Anrufung“, die dem versierten Interpreten spieltechnisch trotz Doppelpedalgebrauch keine größeren Schwierigkeiten bereitet, dafür aber in ihrer intrikaten rhythmisch-metrischen Struktur erhöhte gestalterische Ansprüche stellt. Wäh­rend der Notentext Dynamik und Tempo (per Metronomisierung) exakt festlegt, fehlen bewusst jegliche Registrierungsvorschläge: diesbezüglich darf sich die Fantasie des Spielers frei entfalten.
Strukturell ähnlich konzipiert sind die 14 oft kurzen Nummern von Stendels Orgelzyklus Consolamentum. Wer beim Werktitel an solamen denkt, das lateinische Wort für Trost, hat nicht ganz Unrecht. Genauer aber geht es bei Consolamentum um den Fachausdruck für die Aufnahmezeremonie der Katharer, die im 12. und 13. Jahrhundert als christliche Erneuerungsbewegung in Südfrankreich florierten, freilich nur zu bald von der römischen Amtskirche als ketzerisch verfolgt wurden. Stendels Consolamentum-Zyk­lus zeigt sich gleichermaßen von der Erinnerung an die Ideen der Katharer wie auch vom Eindruck eines Pfingstgottesdiensts in der Kathedrale von Chartres inspiriert.
Die einzelnen Stücke sind durchgehend mit Textmotti überschrieben, kurzen Zitaten aus Psalmen, Evangelien und Episteln, aber auch nicht-biblischen Texten von Augustinus, Thomas von Aquin, Abælard und des Serapion von Thmuis. Manche der Stücke sind in ihrer Faktur etwas schlichter gehalten als Invocamento und lassen sich vielleicht auch einzeln als meditative Zwischenmusiken in der liturgischen Praxis verwenden. Auffällig sind das gelegentliche Hervortreten melodischer Phrasen im Duktus des Gregorianischen Chorals und ein bewusstes Zitat des „Veni, Creator spiritus“: als Cantus firmus im Pedal grundiert es die letzten Takte des von überschäumendem Jubel getragenen Schlussstücks, in dem Stendel auf die Hymnen des Abælard verweist: „Des ewigen Gottes Lob nur ewiger Schall ermisst“.
Gerhard Dietel