Töpel, Michael

Confessio für Orgel: „Ein feste Burg“

1. Preis des Internationalen Kompositionswettbewerbs „Ein feste Burg ist unser Gott“

Verlag/Label: Edition Merseburger 2830
erschienen in: organ 2017/01 , Seite 63

Ohne Taktangabe (leider auch ohne sonstige orientierende Marken oder Zähler) soll diese Musik taktfrei (quasi improvvisando), als „freier Gestus“ (Töpel, S. 6), erklingen. In Sechzehntelbewegung bauen sich kurze Phasen auf, an deren Ende akkumulierte vierstimmige Cluster stehen; kontinuierliche Bewegung wird durch spontane Staupunkte (Fermaten) destabilisiert – mithin Metrum, Takt, Rhythmus ade. Immerhin lassen sich Korrespondenzen wahrnehmen, Einheiten von 6 + 4 Tönen bieten dem Ohr höchst willkommene Anhaltspunkte, Abwärts- und Aufwärtsrichtung werden als Parameter, als Kontrast, erkennbar. Zunächst treten enge Intervalle auf (Sekunde, Terz), dann gewinnen Sept, Oktav und Non die Oberhand – selten rein, meist mit gesuchter geschärfter Dissonanzqualität.
Trotz des Eindrucks von weitgehender Zufälligkeit der Tonfolgen erschließen sich dem forschenden Auge, respektive Gehör, ab und an Konstrukte wie Wiederholung oder Modifikation: oktavversetzt, Kanon auf engstem Raum (Sechzehntel-Abstand). Die Zunahme der Intervalldistanzen ebenso wie die Weitung des Ambitus von der Mittel­lage in die Extrembereiche insbesondere der Höhe (c4) lässt sich durchaus als Entwicklung, Organik, verstehen und nachempfinden. Allerdings: Was theoretisch-rational als kompositorisches Konzept, an Strukturen dem Fachmann qua Analyse erkennbar wird, erschließt sich dem (primär emotional situierten) Hörer nur unvollständig – ekla­tant weichen Atonalität, Dissonanzhaltigkeit, Verzicht auf herkömmliche Parameter von gewohnter Hörerfahrung ab.
Das Konglomerat aus (schrillen) Tönen und Klängen versetzt den Hörer in (intendierte?) Ratlosigkeit, Verunsicherung …
„I. Einschwingung“, „II. Melodie“, „III. Quaestio“, „IV. Cantus firmus“ bilden die makrokosmischen Phasen der Dramaturgie. Jeder Teil weist durchaus sein eigenes Bauprinzip auf. Teil II wählt sogar 9/8 als „Taktangabe“, besser: numerischen Ordnungsrahmen, wobei die 2+2+2+3-Achtelgruppierung à la Bartók mit eco-Effekt im Manual der Pedalkantilene als Hintergrundfolie dient. Der „Quaestio“-Satz entfaltet gewollt experimentelle Hypertrophie des Materials und seiner Darstellung, während Teil IV „Ein feste Burg“ im Pedal mit motorischem Manualpart – mal aus Einzeltönen, mal aus Oktaven oder Mi­niclustern, insgesamt Glitzerwerk in 32teln bis hin zu Unterarm-Clustern schwarz und weiß – zu einer virtuosen Toccata ausgestaltet wird: alter Cantus, neuzeitlich gewandet.
Michael Töpels Orgelwerk mag „Freiheit ohne Anarchie“ (S. 3), „kreative Reibung“ (S. 6) bescheren, auf dem Olymp der Kunst, der musica viva, von einigen Göttern gern gesehen und preisgekrönt. In Thessalien interessieren sich indes die Menschen für fruchtbaren Boden, Tagesbedarf, eine feste Burg aus Steinen zum Einhausen … Trotzdem diskutieren sie, wieweit die Ressourcen „Dissonanz“, „Luther“, „Reformation“ umweltverträglich einsetzbar sind. Individualisten ken­nen die Antwort.

Klaus Beckmann