Krebs, Johann Ludwig (1713-80)

Complete Works for Organ

Volume 1-11 (abgeschl. 2013)

Verlag/Label: Querstand, VKJK 1321
erschienen in: organ 2013/04 , Seite 58

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Wer bei Johann Sebastian Bach Musikunterricht nahm und sich bei dem Leipziger Thomaskantor in der musikalischen Kunst „habilitieren“ konnte, galt nach Abschluss seiner Studien als einer der bestausgebildetsten (Kirchen-)Musiker seiner Zeit und zählte sozusagen zur musikalischen Elite. Profundeste Kenntnisse in der polyphonen Schreibweise, der Harmonie, der Gattungen sowie die vollendete Beherrschung aller damals gebräuchlichen Generalbassinstrumente boten die Grundlage für eine eigene musikalische Karriere. In Bachs Unterricht galten zeitgenössischen Zeugnissen zufolge und gemäß den einschlägigen Kompositionen, die er für den Unterricht schuf, allerhöchste Maßstäbe. Wer sich diesem Unterricht unterzog, sah sich unausweichlich mit einer Erfahrung konfrontiert, welche gleichsam die Grundexis­tenz des Künstlers betraf: Bach zu kopieren war in gewissen Grenzen möglich, ihn musikalisch zu übertreffen apriorisch unmöglich!
Nicht wenige, allen voran Carl Philipp Emanuel Bach, wählten einen anderen Weg: die Synthese von altem Bachischen Stil und dem neuen, in den 1730er Jahren entwickelten Stil der nuancierten Affektdarstellung. Dieser neue „empfindsame Stil“, begünstigt und begleitet von einer Ästhetik, die dem Genie eine bis dahin nicht gekannte musikalische Autonomie zugestand, streifte die Fesseln des Überkommenen, die als schwülstig empfundene Schwere und Strenge des Barock ab.
Als ein besonderer Liebling unter den „Meisterschülern“ Bachs gilt Johann Ludwig Krebs. Seine herausragende qualitative wie musikgeschichtliche Stellung dürfte heute absolut unstrittig sein. Allein die Präsenz seiner Musik in unseren Orgelkonzerten lässt allerorten sehr zu wünschen übrig. Dabei ist sein Orgelwerk doch so umfangreich, bietet für jeden Anlass, jedes Genre und jeden Spieler reichhaltiges Repertoire.
Woran liegt die mangelnde Präsenz Krebs’scher Orgelwerke in öffentlichen Konzerten? Ist Krebs, wie letztlich Buxtehude, ebenfalls ein Opfer der Bach’schen Renaissance des 19. Jahrhunderts und des zentralistischen Bach-Blicks der Leipziger Schule – einfach zu spät (wieder-) entdeckt, um ein eigenes Gewicht zu entwickeln? Liegt es womöglich an der Tatsache, dass Krebs nur noch im Bewusstsein der OrganistInnen existiert und die Spezialensembles der „historischen Aufführungspraxis“ einen weiten Bogen um die zahlenmäßig weitaus geringeren Vokal- und Kammermusikwerke machen? Oder ist gar seine Musik selbst Schuld, die sich mitunter nicht recht entscheiden mag, ob sie mehr dem Bach’schen Vorbild folgen will oder doch dem neuen Stil huldigt? Sind die zum Teil langatmigen Fugen, das Zerdehnen mancher Formen, dem heutigen Zuhörer fremd geworden? Was auch immer die Gründe sein mögen: Johann Ludwig Krebs verdient eine größere Aufmerksamkeit sowohl bei den Organisten als auch beim Pub­likum.
Die weltweit erste (!) Gesamteinspielung der Orgelwerke von Krebs konnte nun im Krebs-Jubiläumsjahr 2013 anlässlich der Wiederkehr des 300. Geburtstags des Komponisten mit Volume 11 abgeschlossen werden. Die beim mitteldeutschen Label Querstand publizierte Edition mit dem nicht minder bekannten als berufenen Krebs-Interpreten Felix Friedrich zeigt auf eindrückliche Weise die stilistische Bandbreite des Altenburger Krebs. Auf mehreren historischen Orgeln wie der Schramm-Orgel der Stadtkirche St. Otto zu Wechselburg oder an Krebs’ „Hausorgel“, der Trost-Orgel in der Schlosskirche zu Altenburg, erweist sich der dortige Krebs-Nachfolger im Amt des Schlosskirchenorganis­ten Felix Friedrich als intimer Kenner der Materie: Er weiß die Orgeln in ihrer ganzen Klangvielfalt darzustellen, die einmal mehr zeigt, wie eng sich Komposition und Klang bei Krebs bedingen. Bei modernen Orgeln wird man gewiss zu anderen Lösungen kommen (müssen), um ein solches Klangresultat annähernd erzielen zu können.
Dass bei einer so umfangreichen Gesamteinspielung gleichwohl auch manche Wünsche offen bleiben, liegt in der Natur der Sache: So könnten manche Verzierungen, besonders im Nachschlag, eleganter klingen, manche schnellen Notenpassagen könnten (noch) spritziger artikuliert werden, was die Virtuosität nur steigern kann.
Leider werden manche Hörgenüsse durch ungünstige Mikrofonaufstellungen mitunter geschmälert, dieses betrifft vor allem Pro-Organo-Pleno-Werke, denen es an „Gravität“ mangelt, da der Raum – gemäß Albert Schweitzer das wichtigste Register der Orgel! – sozusagen „ausgeblendet“ wird. Für die kammermusikalischen Werke wie Trios und manche Choralvorspiele ist diese Aufnahmetechnik allerdings von gewissem Vorteil, da sie die Intimität der Werke bestens einzufangen vermag.
Was diese Einspielung besonders wertvoll erscheinen lässt, ist die Aufnahme diverser Motetten durch den Kammerchor Michaelstein unter der Leitung von Sebastian Göring, der mit seinem intonatorisch klaren wie durchsichtigen Klang einen weitere Facette Krebs’scher Kunst dem Hörer nahe zu bringen vermag, sowie weitere Aufnahmen von Werken mit Solisten (Trompete, Sopran) und Orgel. Allen Mitwirkenden mit einer bündigen Kritik gerecht werden zu wollen, hieße den vorgegebenen Rahmen zu sprengen. Es sei deshalb dem Hörer empfohlen, sich von den vorzüglichen künstlerischen Darbietungen selbst zu überzeugen.
Neben dem Aspekt einer Gesamtdarstellung des Tastenwerks einschließlich der erwähnten „Zusätze“ wie Motetten und Arien von Johann Ludwig Krebs bietet diese Edition zugleich eine klanglich interessante Anthologie historischer Orgeln Mitteldeutschlands aus dem Barockzeitalter. Das reich bebilderte Booklet (D/E) informiert den Zuhörer über alle wichtigen Fakten der eingespielten Werke. Für alle Liebhaber barocker Orgelkunst sei diese Edition nachdrücklich empfohlen.

Volker Ellenberger