Saint-Saëns, Camille (1835-1921)

Complete Organ Works

Verlag/Label: 3 CDs, Musikproduktion Dabringhaus und Grimm MDG 316 1767-2 (2012)
erschienen in: organ 2013/01 , Seite 56

4 von 5 Pfeifen

Ein audiophiles „Fest der Sinne“ im mondänen Glanz einstiger Pariser Orgelwelten: Ben van Oosten spielt die Orgelwerke von Camille Saint-Saëns an der großen Orgel der Kirche Sainte-Madeleine, wo Saint-Saëns bekanntlich selbst über zwei Jahrzehnte lang wirkte. Die Orgel wurde 1846 von Aristide Cavaillé-Coll (IV/Ped./46 Register) in den kurz zuvor zur Kirche umgewidmeten antikisierenden Säulenbau eingebaut und im Laufe der Zeit 1927 durch Mutin renoviert, 1956/57 von Roethinger/Boisseau umgebaut, 1971 von der Firma Danion-Gonzalez verändert und elektrifiziert; durch weitere Umbauten von Dargassies (1988/2002) präsentiert sie sich in einer farbenreichen, überzeugenden Klanggestalt mit heute 62 Registern auf vier Manualen und Pedal.
Der neobarockisierte Eindruck der Ära Boisseau/Gonzalez ist durch die jüngste Restaurierung weitgehend wieder abgemildert, und die vielen originalen Farben der Ästhetik Cavaillé-Colls prägen das aktuelle Klangbild des orgelgeschichtlich berühmten Instruments, das be­reits zu seiner Erbauungszeit über etliche innovative Besonderheiten verfügte, u. a. die erste Voix céleste in Frankreich, die – wie ursprünglich ebenfalls der Basson-Hautbois – im nicht schwellbaren Positif steht, zahlreiche überblasende Flöten in 8’/4’/2’-Lage und von Cavaillé-Coll seltener disponierte Zungenstimmen wie Musette und Cor anglais. Natürlich fehlen die typischen schweren Zungen in „Harmonique-Bauweise“ mit doppelter bis dreifacher Becherlänge nicht; 2002 kamen neue Chamaderegister (Dargassies) hinzu.
Im Gegensatz zu den allbekannten Orgelsymphonikern Frankreichs führt die Orgelmusik von Saint-Saëns, von wenigen Evergreens einmal abgesehen, ein Schattendasein, obwohl der Komponist zeitlebens mit dem Instrument Orgel biografisch eng verbunden war. Nachdem Saint-Saëns an der Pariser Kirche Saint-Merry sein erstes festes Orgelamt ausübte, wurde er 1857 Nachfolger des beliebten Modeorganis­ten der mondänen Pariser Society, Lefébure-Wély, in der noblen Ma­deleine. Saint-Saëns’ wöchentliche Improvisationen zur Grande Messe galten damals als musikalisches „Event“ in der Seine-Metropole. Franz Liszt nannte ihn gar „den besten Organisten der Welt“.
Die Zusammenstellung und Reihenfolge der Stücke auf den drei CDs ist klug überlegt und erzeugt Spannung beim Zuhören. Wenngleich die instruktiven Textbeiträge (E/F/D) aus der Feder des Interpreten neben einer Kurzbiografie des Komponisten das Orgelwerk Saint-Saëns’ sinnvoll in Frühwerk, klassische Periode und Spätwerk unterteilen, folgt die Track-Verteilung nicht streng dieser Chronologie. CD 1 beginnt mit der der spanischen Königin Maria Christina gewidmeten Marche religieuse op. 107 (komp. 1897). Es folgen die musikalischen Reiseerinnerungen an einen Bretagnebesuch (1866) Trois Rhapsodies sur des Cantiques bretons op. 7, allesamt eindrucksvolle Volkslied- bzw. Weihnachtslied-Bearbeitungen, die der Komponist selbst oft gespielt und auch für andere Besetzungen bearbeitet hat. Die oft zu hörende, an Mendelssohn erinnernde Fantaisie Es-Dur (o. Op.), die Saint-Saëns zur Wiedereinweihung der von Cavaillé-Coll restaurierten Orgel von Saint-Merry 1857 schuf, wird den späteren Fantasien op. 101 (der als Dichterin in Paris unter dem Pseudonym Carmen Sylva bekannten rumänischen Königin Elisabeth gewidmet) und op. 157 gegenübergestellt. Die orches­tralen Registriermöglichkeiten der Madeleine-Orgel kommen bei diesen beiden späten Fantasien voll zur Geltung, wobei die Härte der Zungenstimmen in der gesamten Aufnahme, bei op. 101 der Hautbois, etwas unangenehm auffällt, dagegen am Ende der Zauber der überblasenden Flöte den Hörer beglückt zurücklässt. Eine Entdeckung ist die rhapsodische Fantaisie C-Dur op. 157, die durch ihre abwechslungsreiche Kompositionsweise, die Verwendung vielfarbiger Registrierungen und die teils impressionistische Harmonik besticht. Als lohnendes Konzertstück bietet sie sich auch für Orgelprogramme heutiger Kon­zertorganisten an.
Auf CD 2 folgen aus der „klassischen“ Periode des Komponisten die bekannten Trois Préludes et Fugues op. 99 sowie Trois Préludes et Fugues op. 109 nebst Bénédiction nuptiale op. 9, die – obgleich ein frühes Werk – ganz in impressionis­tischen Quartklängen beginnt, um sich sodann wie ein „Lied ohne Worte“ in einer orchestralen Steigerung fortzuspinnen.
CD 3 versammelt selten zu hörende Preziosen der letzen Kompositionsperiode, wie die Sept Improvisations op. 150, die durch fortschrittliche Harmonik, Ganztonmotivik und die Verwendung von gregorianischen Themen sowie eine tänzerische altfranzösische Stilreminiszenz aufhorchen lassen. Das hochsymphonische Solostück Cyprès (aus Cyprès et Lauriers op. 156), in dessen zweitem Teil, der hier allerdings nicht aufgenommen wurde, ein großes Orchester hinzutritt, wurde dem Gedenken des Ersten Weltkriegs im März 1919 komponiert. Das ergreifende Stück endet in tiefer Resignation. Doch van Oos­ten lässt seine Gesamteinspielung so nicht enden und versetzt, versöhnlich klingend, mit der Élévation ou Communion op. 13 den Hörer nochmals in träumerische Sphären.
Die Aufnahmetechnik in der überhalligen Madeleine ist hier durchweg direkt und sehr klar, ohne auf warmen Raumklang vollständig zu verzichten. Die Zungen der Orgel klingen teilweise sehr obertonreich-hell, schnarrend und etwas aufdringlich.
Volle Anerkennung dem Interpreten, der diese vielgestaltigen und sehr reizvollen Orgelwerke insgesamt möglichst nahe am Originalklang zur Geltung bringt. Ben van Oosten zeigt wie immer gewohnte Präzision, sachliche Klarheit des Spiels und interpretatorisches Einfühlungsvermögen in die Kompositionen.

Stefan Kagl