Franck, César

Complete Organ Works

Verlag/Label: 6 CDs, audite 21.413 (2012)
erschienen in: organ 2013/01 , Seite 53

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Auf sechs CDs liegt nunmehr von Hans-Eberhard Roß die wohl vollständigste Gesamteinspielung der Orgelwerke und der auf der Orgel spielbarer Harmoniumstücke (bei der Fantaisie op. 16 sogar mit drei Frühversionen) César Francks vor. Die Anthologie beginnt mit Frühwerken, die in den Jahren 1846-65 entstanden sind: Pièce en mi bémol, Pièce pour Grand Orgue, Andantino, Fantaisie C (Version I), Cinq Pièces pour Harmonium transcrites pour Grand Orgue par Louis Vierne, Offertoire, Fantaisie C (Version II), Quasi Marcia (op. 22) pour Harmonium. Auf der zweiten CD folgen die Six Pièces pour Grand Orgue. Auf CD 3-6 wurden alle Pièces posthumes pour Harmonium ou Orgue à pédales pour l’office ordinaire (L’Organiste I von 1890 und II aus den Jahren 1858-63), kleinere Harmoniumstücke (entstanden 1865 bis 1880), Fantaisie C (Version III), sowie Trois pièces pour Grand Orgue eingespielt. Auf dieser CD bilden das Finale die Trois Chorals pour Grand Orgue. Etliche dieser Stücke wurden hier erstmalig (die Aufnahmen stammen aus den Jahren 2004/ 2005) aufgenommen bzw. zum ers­ten Mal auf der Orgel oder in ihrer Vollständigkeit als Tonträger veröffentlicht. Der CD-Box ist ein 64-seitiges deutsch-englisches Booklet mit Werkeinführungen von Martin Weyer beigelegt.
Die Disposition der 1998 erbauten viermanualigen Orgel von St. Martin mit ihren 62 Registern stellt sich beim ersten Blick auf dem Papier zunächst als typisches „modisches“ Kompromissinstrument der 1990er Jahre dar. Beim Anhören der CDs und mehr noch, wenn man die Gelegenheit hatte, diese Orgel selbst einmal zu spielen, erkennt man, dass diese Orgel der exquisiten schweizerischen Orgelbaumanufaktur Goll aus Luzern fraglos eine der erstrangigen Neubauten der letzen Jahrzehnte darstellt. Eine in allen Teilen perfekte Intonation, ein unglaublich verschmelzender, wahrhaft symphonischer Orgelklang, verbunden mit einer traumhaften, vollmechanischen Traktur, kennzeichnen dieses Meis­terwerk höchster eidgenössischer Orgelbaukunst. Sowohl die kleineren Stücke, die ausnahmslos liebevoll in symphonischer Manier regis­triert wurden, als auch die „großen“ Orgelwerke Francks lassen sich auf diesem Instrument in kongenialer Weise darstellen.
Eberhard Roß, Dekanatskantor an St. Martin in Memmingen, hatte an Planung und Ausführung dieses Orgelneubaus maßgeblichen Anteil und setzt damit und mit seiner gesamten Arbeit dort als Kirchenmusiker weithin beispielhafte Akzente. Roß hat u. a. bei Günther Kaunzinger in Würzburg studiert, und seine Franck-Einspielung vereinigt den virtuosen Impetus seines Lehrers mit einem stilsicheren Einfühlungsvermögen vor allem in regis­triertechnische Aspekte des Franck’­schen Schaffens. Sie steht damit im Zeichen der neueren Franck-Rezeption, die vor allem durch den französischen Musikwissenschaftler Joël-Marie Fauquet angeführt wird. Fauquet hält der einseitigen Verklärung Francks als weltentrückter Pater seraphicus seiner Eleven um 1900 eine ganz anders geartete Seite seines Schaffens und Lebens entgegen, die sowohl die instrumental-virtuose Komponente als auch das weltliche vokale Schaffen des Pianisten Franck beinhaltet.
Gerade in diesem Zusammenhang ist die Gegenüberstellung der so genannten „großen“ Orgelwerke symphonisch-konzertanten Stils zu den teilweise galanten, in der damaligen Gottesdienstpraxis üblichen salon- oder hausmusikhaften liturgischen Orgelmusik besonders in­te­ressant, zumal eine große Zahl dieser Piècen zeitlich überlappend zu den bekannten Orgelwerken entstanden sind. Die umfangreiche Harmonium-Sammlung, die als L’Organiste (Teil I) überliefert ist, stammt gar aus der Spätzeit der Trois Chorals, also aus Francks Todesjahr 1890!
Genauso interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang eine Betrachtung der Tempi der Franck’­schen Orgelwerke. Die tradierten Metronomangaben der bekannten Orgelstücke variieren schon in der Schülertradition (auf der einen Seite Tournemire-Langlais, auf der anderen Seite Guilmant-Dupré). Interessant ist auch der Vergleich von Francks eigenen Metronomangaben in den hochvirtuosen Klavierwerken und seiner eigenen Metronomisierung der Six Pièces in einem eigenhändigen Brief an einen amerikanischen Schüler aus dem Jahre 1889. Hier schreibt der Komponist für die sechs Stücke detailliert atemberaubende Tempi vor. Roß legt sich in seiner Aufnahme auf keines der Extreme fest. Seine Tempi sind durchaus im Rahmen der Überlieferung, doch nutzt er gekonnt virtuose Passagen glänzend aus. Stil­sicher, hochmusikalisch und ausdrucksstark gestaltet er die Phrasen und musikalischen Entwicklungen. An manchen langsamen und expressiven Stellen, besonders in den Chorälen, könnte er mit etwas mehr Ruhe und gleichzeitig noch größerer Freiheit des Ausdrucks den Pater extaticus evozieren.
 Die vorbildliche Aufnahmetechnik zeichnet das Instrument optimal auf und ein wohldosierter Raumklang ergibt eine angenehme, aber doch strukturierte Höratmosphäre. Insgesamt eine in ihrer enzyklo­pädischen Einmaligkeit, in der Interpretation und in der Wahl des In­struments unabdingbare Neuerscheinung für alle Freunde französischer Orgelmusik und insbesondere Franck-Liebhaber!

Stefan Kagl